"The last train is nearly due,
the underground is closing soon.
In the quiet of Circuit Station,
restless in anticipation,
a man waits in the shadows."
Paul Simon, "A Poem on an Underground Wall"
Der Mann, der in diesem Song auf die letzte U-Bahn wartet, gehört zur New Yorker Graffiti-Szene. Sobald der letzte Zug durchgefahren und der Bahnsteig menschenleer ist, wird er sich mit seinem neonroten Acrylstift an der Tunnelwand verewigen und den Menschen, die hierher kommen, seine Botschaft hinterlassen.
Dass Sprayer an den Wänden von Apartmentblocks, Bahnanlagen, Werks- und Lagerhallen oder in den Zwischengeschossen und an den Wänden von (U-)Bahnstationen Botschaften und Gemälde hinterlassen und mit ihrem "Tag", ihrem Namenskürzel signieren, ist also nichts Neues; diese Bewegung gibt es schon seit den 1960er Jahren, als sie in New York und London erstmals in Erscheinung trat und später auf die Städte des europäischen Kontinents übergriff. Und nach wie vor ist ihr Tun illegal; nach dem Gesetz schänden sie mit ihren Spraydosen oder Acrylstiften öffentliches Eigentum.
Seit 1990, als der junge Sprayer und selbsternannte "Street Artist" Robin Banks sich erstmals an einer Kaimauer seiner Heimatstadt Bristol an der Mündung der Severnbucht verewigt und mit seinem Tag "Banksy" signiert hat, ist seine Vorgehensweise bis heute stets gleich geblieben:
Bei Nacht und Nebel oder manchmal auch am hellichten Tag hält ein weißer VW-Sprinter vor der Wand einer Mietskaserne oder an einer Hafen- oder Fabrikmauer zu einer Zeit, in der niemand in dieser Gegend unterwegs ist.
Eine Gestalt in einem weißen Maurer-Overall und einer Kapuzenjacke in derselben Farbe - die Kapuze hat er so weit nach vorne gezogen, dass sein Gesicht in ihrem Schatten verborgen bleibt - steigt bewaffnet mit Schablonen und Spraydosen aus dem Lieferwagen.
Ohne Aufheben, aber auch ohne zu zögern fixiert er seine Schablone an der Mauer, legt mit seinen Spraydosen los, packt sein "Werkzeug" ein, steigt in seinen Sprinter und fährt davon - und an der Wand bleibt das neueste Werk zurück, das Banksy hinterlassen hat.
Das Themenspektrum seiner Graffiti, Skulpturen und Installationen reichen von Szenen aus dem Alltagsleben über Erscheinungen der Mode und des Zeitgeistes bis zu Ereignissen, die Geschichte geschrieben haben.
Und obwohl Banksys Werke erst seit 1990 an den Wänden von Bristol, London, New York, dem Gaza-Streifen und neuerdings auch der Ukraine auftauchen bzw. plötzlich dastehen, erinnern mich seine auf die Kernaussage reduzierten Spraydosen-Gemälde und Skulpturen an die ebenfalls minimalistischen, aber eine bestimmte Situation klar umreißenden Plakate von Henri de Toulouse-Lautrec und dessen lakonisch-ironische Bildersprache.
So zeichnet sich beispielsweise an einer hell erleuchteten Wand die elegante und zugleich unverkennbare Silhouette einer Ratte ab, und unter dem schwarzen Schattenriss steht in Anlehnung an den LOreal-Slogan "Weil ich es mir wert bin" geschrieben: "Weil ich wertlos bin."
Eine Schar von Punkern und Späthippies - auch ihre Silhouetten sind eindeutig zu erkennen - steht vor einem Kiosk brav in der Schlange, in dem Statement-T-Shirts für 30 Euro angeboten werden; ihre Protesthaltung ist in Wahrheit Heuchelei, da sie alle den Konsumzwang, den sie kritisieren, akzeptieren, indem sie ihn durch den Kauf dieses T-Shirts mitmachen.
In einer Szene bei Sothebys werden gerade Banksys Werke versteigert, und in einem leeren Bilderrahmen steht geschrieben: "Ich kann nicht glauben, dass ihr Deppen wirklich für diesen Scheiß bezahlt!"
Denn es ist schon kurios: Sein Leben lang hat Banksy seine Werke für alle geschaffen, die an ihnen vorübergehen, und nie einen Cent dafür verlangt. Doch heute werden seine Graffiti, die man vor dem Abriss eines Gebäudes von der Wand heruntergeschlagen hat, tatsächlich bei Sothebys zu horrenden Preisen versteigert: 675.000 Pfund... 14.650.000 Pfund... Und wer auch immer das jeweilige Werk ersteigert hat, bezahlt tatsächlich diesen Preis!
Bis heute kennt niemand das Gesicht dieses Ausnahmekünstlers; selbst sein "Selbstporträt" zeigt nur zwei große, hell erleuchtete Augen hinter einer Hornbrille und die Andeutung einer Nase. Auch als er sich vor laufender Kamera zum Sinn und Zweck seiner Kunst äußert, liegt sein Gesicht tief in den Schatten seiner Kapuze verborgen, und seine Stimme ist elektronisch verfremdet.
Offiziell heißt es lediglich von ihm, dass er ein erfolgreicher Unternehmer ist. Es muss wohl so sein, denn ohne einen sicheren finanziellen Hintergrund könnte er seine Aktionen nicht genauso ausführen, wie er sie geplant hat, und ohne vor dem permanenten Druck der Behörden, Rechtsanwälte und Gerichte zu kapitulieren und sie zurücknehmen zu müssen.
Aus meiner Sicht tut Banksy gut daran, der große Unbekannte zu bleiben, denn nur das Wirken im Untergrund ermöglicht es einer solch einflussreichen und Aufsehen erregenden Erscheinung wie ihm, dass er weiterhin frei und unabhängig seine Meinung sagt, ohne von Behörden, Presse und Rundfunk und den Social Media "abgeschossen" zu werden.
Denn in den dreißig Jahren seines Schaffens hat er immer wieder auf seine eigenwillige, mitunter auch unbequeme Weise kundgetan, was er von bestimmten Erscheinungen des Zeitgeschehens hält.
Ob er in einem frechen, respektlosen Porträt aus Queen Elizabeth II. eine Schimpansin macht, was man ihm in seiner Heimat Großbritannien ernsthaft übelgenommen hat, oder das Unterhaus des britischen Parlaments im Vorfeld des Brexit-Volksentscheids als ein chaotisches, tobendes Affentheater bezeichnet und alle Anwesenden im Saal ebenfalls in Schimpansen verwandelt;
Ob er im Jahr 2004 10-Pfund-Noten im Wert von 1.000.000 Pfund mit dem Porträt von Prinzessin Diana druckt, sie auf dem Markt von Notting Hill zur Zeit des Karnevals unter das Volk bringt und die Leute tatsächlich mit diesem 10-Pfund-Schein an den Marktständen und in den Läden von Notting Hill bezahlen,
ob er in Bournemouth, einem Badeort an der englischen Südwestküste, einen Park für Erwachsene im Stil der Disney World eröffnet, der absolut nichts Schönes und Heiteres hat, sondern Dekadenz und Tristesse verströmt, wohin man schaut;
ob er im con israelischen Truppen besetzten Gaza-Streifen ein Grandhotel erbauen und einrichten lässt, in dem sich kein Mensch freiwillig aufhalten würde, während die eingesperrten Menschen seit Jahrzehnten dort ausharren müssen und die WeltöffentlichkeiT es ohne Proteste und Kommentare hinnimmt;
oder ob er auf seine Weise zeigt, wie es den Menschen während der Corona-Pandemie, vor allem während der Lockdowns ging, nämlich schlicht und einfach beschissen:
Mit Aussagen dieser Art, die sich zum Teil gegen den allgemeinen Konsens stellen, schafft man sich in unseren Tagen schneller Feinde, als man bis drei zählen kann.
Wenn sich zwei Aspekte gleich einem roten Faden durch Banksys Schaffen ziehen, dann zum einen seine subjektive, individuelle, aber stets klar und eindeutig formulierte Sicht der Dinge, und zum anderen das Motiv, das seinem Schaffen zu Grunde liegt:
Was auch immer geschieht, nie dürfen wir Menschen unser lebendiges, empfindendes Herz verlieren und die Fähigkeit aufgeben, füreinander Liebe zu empfinden und sie zu leben, ganz gleich, wie sehr wir Gefahr laufen, verwundet zu werden.
Das zeigt das "Mädchen mit dem roten Ballon", sein berühmtestes Graffiti-Werk; das zeigen die beiden Kinder, die auf einem Berg von Waffen stehen und gemeinsam einen roten Ballon in Gestalt eines Herzens hoch halten; und das zeigen auch die Tänzerin, die Akrobatin und die beiden Judo-Kämpfer in seiner jüngsten Bilderreihe, die er auf den verbleibenden Trümmern zerbombter Städte in der Ukraine hinterlassen hat.
Mein Fazit: Die ehemalige „Galeria“ am Stachus ist drauf und dran, sich diesen Namen wirklich zu verdienen. Erst die Meisterwerke der Renaissance, jetzt die Banksy-Werkschau; was wird als Nächstes kommen? Aus meiner Sicht muss es etwas geben, das als Nächstes kommt, damit das Herz von München am Leben bleibt.
Was die aktuelle Ausstellung betrifft, kann ich nur einmal mehr sagen: Münchnerinnen und Münchner, Zugereiste und Gäste, seht Euch an, was im Tiefgeschoss der „Galeria“ vor sich geht; die zwamzig Euro Eintritt lohnen sich für die Fülle an Gemälden, Fotos und Objekten, die es zu sehen gibt!
Und wartet mit eurem Besuch nicht zu lange, denn Banksy bleibt - genau wie seine Werke - nicht lange an diesem Ort; früher oder später wird er wieder spurlos verschwinden!