Die Tärkenfelder Bergweihnacht
Die Türkenfelder Bergweihnacht, mit der ich meine Artikelreihe für dieses Jahr abschließen möchte, ähnelt in ihrer Atmosphäre und ihrem Flair der Waldweihnacht von Halsbach und ist doch wiederum anders.
Die Unterschiede beginnen schon mit der Landschaft: Während der Teil Südostbayerns, in dem Halsbach liegt, fast topfeben ist, endet auf der Höhe von Grafrath die Münchner Ebene, und das Land wölbt sich nach und nach zu sanften Hügeln auf. Diese Gegend ist nicht das Alpenvorland, geschweige denn mit den Alpen zu vergleichen, aber Berg und Tal gibt es hier durchaus.
Auch nähert sich Türkenfeld und die benachbarte Kleinstadt Geltendorf einer Sprachgrenze: Hier hört man sowohl „Boarisch redn“ als auch „Schwäbisch schwätze“, denn hier beginnt das Gebiet der Lechschwaben, die seinerzeit den Heeren des Osmanischen Reiches Widerstand geleistet haben. Somit ist der Ortsname „Türkenfeld“ historisch begründet, denn von hier bis Kaufering, Landsberg und Augsburg lieferten sich die christlichen und islamischen Heere vor langer Zeit heftige Gefechte.
In Türkenfeld ist von dem Schlachtengetümmel von einst heute nichts mehr zu spüren; es ist ein stilles, friedliches Dorf mit einer kleinen aber schmucken Dorfkirche und einem stattlichen Gasthof.
Doch die Türkenfelder Bergweihnacht findet nicht im Ort statt. Wer sie besuchen will, fährt am besten mit der S4 bis Türkenfeld – Achtung, an Sonn- und Feiertagen herrscht zwischen Grafrath und Geltendorf ein 40-Minuten-Takt, so dass man die Abfahrtszeiten der S4 Richtung Innenstadt im Hinterkopf oder auf dem Smartphone behalten sollte – und nimmt den Shuttle-Bus, der neben der S-Bahn-Trasse hält und die Besucherinnen und Besucher einsammelt, mit ihnen den Ort durchquert, in die Prärie hinaus fährt und sie an einem Feldweg abliefert, der laut Wegweiser „Steingassener Weg“ heißt.
Der Feldweg ist so breit, dass der Shuttle-Bus ohne Mühe bis zum Endziel fahren könnte; doch schon der Weg gehört bereits zur Bergweihnacht als Ganzes. Man wandert den sanft ansteigenden Feldweg hinauf, der vom mattschimmernden Licht anmutig geschwungener Laternen erhellt ist, zwischen Wiesen und Feldern hindurch verläuft und am burgunderrot lasierten Forsthaus endet, das sich oben auf dem Hügelkamm im Wald versteckt und zugleich über die Wiesenhänge weit in das stille Land hinausblickt. Hier oben braucht kein Jäger einen Hochsitz, um alles zu sehen, was sich unterhalb des Hügelkammes tut!
Und hier an den Wiesenhängen, die zum Areal des Forsthauses gehören, sieht man Rehe und Rotwild still und friedlich weiden. Unter dem Jahr kann man hier also seinen Braten vom Reh oder Hirsch quasi von der Wiese abholen – oder auch nicht, wenn man sie lebendig sieht und es nicht übers Herz bringt, dass sie ihr Leben lassen sollen…
Bevor Naturschützer an dieser Stelle Alarm schlagen, ein paar Anmerkungen von mir: Die Rehe und das Rotwild sind keine freien Wildpopulationen, sondern werden von der Forstverwaltung gehegt, versorgt und beobachtet. Auch haben sie hier das ganze Jahr hindurch freien Auslauf, natürliches Futter und frische Luft. Doch um zu verhindern, dass sie die Wälder kahlfressen oder sich an neugepflanzten Bäumchen vergreifen, wenn das Futter für sie knapp zu werden beginnt, ist es aus forstwirtschaftlicher Sicht nötig, dass pro Jahr eine bestimmte Anzahl von Rehen und Hirschen geschossen werden.
Doch nun zur Bergweihnacht selbst! Sie entstand als Initiative der Türkenfelder, die mit ihrer Idee bald Verstärkung aus Grafrath und Geltendorf, sogar aus der Kreisstadt Fürstenfeldbruck bekamen. Alle Beteiligten lassen es sich nicht nehmen, ihre Stände selbst aufzubauen, sich an den Herd oder das offene Feuer zu stellen und die Besucher mit Ofenkartoffeln, Würstchen aller Art, Hirsch- und anderem Gulasch und vielem mehr zu versorgen.
Wie Standleute mir erzählten, verlief der erste Tag - ein Freitag – noch recht friedlich und still. Doch der Markt sprach sich in der Nachbarschaft wie ein Lauffeuer herum, so dass nur einen Tag später ein Besucherstrom einsetzte, den die Veranstalter in dieser Stärke nicht erwartet hatten. Schon am Nachmittag gingen ihnen die Vorräte aus, so dass sie nach Fürstenfeldbruck in den großen Supermarkt beim S-Bahnhof ausrücken mussten, der am späten Nachmittag als einziges Geschäft noch geöffnet hatte, um sich mit Nachschub einzudecken, zurückzukehren und ihre Gäste weiter zu beglücken.
Das Besondere an diesem Weihnachtsmarkt ist die Betonung des alpenländischen sowie des waidmännischen Flairs. So formieren sich am frühen Nachmittag Flügel- und Signalhornbläser und lassen in sanften, weichen und vollen Tönen ihre Fanfaren und Waldmelodien in das stille Land hinaus erschallen.
Doch für mich ist es noch eindrucksvoller, wenn hier den Schweizer Traditionen Raum gegeben wird: Jemand nimmt eine große runde Emailschüssel zur Hand, wirft eine Silbermünze hinein und lässt sie mit einem einzigen geschickten Schwung knapp unter dem Rand kreisen. Der auf- und absteigende Klang, den die Silbermünze beim Kreisen in der Schüssel erzeugt, klingt wie fernes Glockenläuten, das an einem Bergmassiv widerhallt. Drei endlos lange Alphörner lassen ihren dunklen, feierlich-getragenen Klang weit in das stille Land hinaus tönen, und darüber steigt hoch, stark und klar eine einzelne Sopran- oder Tenorstimme empor und jodelt.
Wem bei diesem Akkord - dem rieselnden Glockenklang der kreisenden Münze, dem tiefen, ein wenig melancholischen Dröhnen der Alphörner und der hell und klar jubilierenden Solo-Jodelstimme - nicht die Gänsehaut über den Rücken läuft, dessen Gemüt muss hoffnungslos eingerostet sein…
Bei Einbruch der Dunkelheit wird vor dem Forsthaus ein großes prasselndes Feuer entzündet. Hat sich die Nacht über das stille Land gesenkt, erscheinen wilde, in grobe, abgerissene Felle gekleidete Gestalten, deren Gesichter sich hinter Tiermasken mit Hörnern verbergen. Mit rasselnden Ketten und scheppernden Kuhglocken behangen, tänzeln und hüpfen sie um die Feuerstelle, johlen und jauchzen und machen Lärm, so viel und so laut sie können.
Dies ist die Stunde der Perchten, in denen die archaische Angst des Menschen vor Kälte und Finsternis Gestalt geworden ist. Wenn Menschen früher in die Gestalt von Naturgeistern schlüpften, bekämpften sie diese Angst, indem sie sich selbst in eine furchteinflößende Gestalt verwandelten und so viel Lärm und Krach wie möglich schlugen, um die Geister der Kälte und Dunkelheit zu vertreiben und dem Licht zum Sieg zu verhelfen.
In unserer Zeit wurden die Perchtenläufe wieder aufgenommen, doch heute ist es nur noch eine besondere Gaudi, und auch wenn sie wild und schräg aussehen, hat niemand mehr vor ihnen Angst. Zwar heißt es, dass in manchen Gemeinden im alemannischen Raum einige der Perchten ihr Gewand und ihre Rolle missbraucht und Gewalt angewendet haben sollen, doch solche Verstöße wurden rasch geahndet; und für gewöhnlich verläuft ihr Auftritt angst- und gewaltfrei.
Wird es nach Einbruch der Dunkelheit zunehmend kälter, kann man sich gerne ins Forsthaus zurückziehen und sich ein Hirschgulasch oder einen Rehrücken mit Spätzle holen. Allerdings sollte man dies nicht zu spät tun, denn spätestens ab 18:30 Uhr bekommt man leichter und schneller einen Braten als einen Sitzplatz im Festsaal.
Warum? Weil ab 19:30 Uhr das Jugendorchester des Türkenfelder Gymnasiums aufspielt. Ob bayrische Märsche oder Rock- und Pop-Hymnen, die Jungen und Mädchen können beides, und das auf einem für Laien und Schüler hohen Niveau. Der Melodienreigen endet mit einem Potpourri bekannter Weihnachtslieder, die den Abend festlich und stimmungsvoll ausklingen lassen.
Jetzt und hier ist für mich die Zeit und Gelegenheit gekommen, um meinen Leserinnen und Lesern nah und fern friedliche, besinnliche und gesegnete Weihnachten und ein gutes, glückliches und vor allem gesundes neues Jahr 2021 zu wünschen. Hoffentlich wird 2021 besser! Was sage ich: Es kann nur besser werden, denn 2020 war für uns alle unter aller Kanone!