Das Klangfest im Werksviertel
Kurz bevor die Sommerferien in Bayern enden, hat früher am Samstagabend vor Schulbeginn von 19:00 bis 24:00 Uhr die "Nachtschwärmer"-Kulturnacht stattgefrunden, an der sich die großen Kaufhäuser und Modegeschäfte der Münchner Innenstadt von der Schützenstraße bis zum Torbogen des Alten Rathauses beteiligt haben und die zugleich den Neubeginn der Kultursaison eingeläutet hat.
Leider existiert die Hälfte all der Häuser - die Galeria am Hauptbahnhof und am Stachus, der Sport-Karstadt nach dem Oberpollinger, der Betten-Rid, das frühere Kaufhaus Konen - in denen früher die Gratiskonzerte junger aufstrebender Bands, Trios und Solisten stattfanden, inzwischen nicht mehr.
Um der aktiven Münchner Musikszene ein neues Forum und den Münchnerinnen und Münchnern kostenlos die Gelegenheit zum Ausgehen und Flanieren zu bieten, hat der Münchner Stadtrat unter Vorsitz des Kulturreferenten in diesem Jahr beschlossen, im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof das Klangfest mit Live-Bands auf vier verschienenen Bühnen zu veranstalten.
Dass ich mir ein solches Ereignis nicht entgehen lassen würde, lag auf der Hand!
Der Reigen der Konzerte begann mit der fünfköpfigen, teils brasilianisch, teils bayrisch besetzten Combo Bavaschoro auf der Freiluft-Bühne am Knödelplatz.
(Dass die Fläche zwischen der orange lackierten Pfanni-Gedenkstätte und Imbissmeile, dem Park-Hochhaus und der neuen KPMG-Zentrale so heißt, hatte ich bis dato noch gar nicht gewusst.)
Saxophon, Trompete, Akkordeon, Kontrabass und Schlagzeug gaben sich ein lebendig-spritziges Stelldichein. Für mich klangen die Rhyhtmen, die von der Freiluft-Bühne über den Platz tönten, nach Bossa Nova und Ipanema-Sound; es handelte sich aber um Choro, den Vorläufer des Samba. Saxophonist und Akkordeonist sangen hin und wieder, mal in brasilianischem Portugiesisch, mal auf Bayrisch; eine Mischung, die durchaus stimmig in den Melodiefluss und die Rhythmik des Ganzen passte.
Etwas befremdend und irritierend erschien mir zum Teil das Verhalten des Publikums. Anstatt der Musik auf der Bühne ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden und sie einfach zu genießen, verbrachten nicht wenige Besucherinnen und Besucher ihre Zeit eher damit, sich im Gelände des Werksviertels zu orientieren, nach Freunden und Bekannten Ausschau zu halten, mit denen sie sich treffen wollten, und sich selbst und andere Gäste zu fragen, was sie hier tun und wohin sie gehen sollten.
Nun, erst einmal in Ruhe dem zuhören, was in nächster Hör- und Sichtweite geboten war, würde ich sagen!
Das Konzert von Bavaschoro ging zu Ende, und wie bei der Langen Nacht der Musik bot sich nun die Gelegenheit, zu einer anderen Spielstätte bzw. zum nächsten Programmpunkt weiter zu ziehen.
Und so lernte ich an diesem Tag erstmals das Werk 7-Theater kennen, das deutlich tiefer als das Hochplateau mit dem orangenen Pfanni- und Imbiss-Zentrum und dem Teamtheater/Parkhochhaus- Komplex liegt und über ein paar Treppenstufen oder eine schräg geneigte Rampe zu erreichen ist.
Früher war das Gebäude eine Fertigungshalle, und seinen Industrie-Charakter kann es bis heute nicht verleugnen: ein niedriger, aber langgestreckter Bau aus dunkelrotem Backstein, an dessen Längsseite man entlang gehen muss, um zum Eingangs- und Kassenbereich zu gelangen. Der Innenraum der ehemaligen Werkshalle hat allerdings nichts Industrielles mehr an sich. Wie in einem Amphitheater sind die bequemen dunkelblauen Polstersessel im Zuschauerraum in sich nach unten verjüngenden, stufenförmig angelegten Halbkreisen angeordnet, so dass die Zuschauerinnen und Zuschauer von jeder Reihe aus die kleine Bühne auf dem Tiefplateau an der Stirnseite des Raumes gut im Blick haben.
Hier trat als nächster Live-Act das Trio Café Voyage auf, das sich den Rhythmen des Latin Jazz verschrieben hat und in deutscher Sprache eigene Texte singt und spielt. Es besteht aus einem Gitarristen und Leadsänger, der in mir den Eindruck erweckte, als fühle er sich an diesem Ort und gegenüber einem ständig wechselnden Publikum fehl am Platze, mache aber gute Miene zu dem für ihn nicht wirlich begeisternden Spiel.
Der Mann am Schlagzeug wiederum schien sich über seinen Auftritt zu freuen und sorgte mit seinen beiden Jazzbesen für ein zügiges Tempo und den im Latin Jazz nötigen Drive und Pep, vereint mit federnder, schwebender Leichtigkeit.
Eine in jeder Hinsicht positive Überraschung aber war für mich die junge Cellistin. An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass ich von Natur aus den weichen, tiefen, runden Klang des Cellos jenem der Geige vorziehe, ihn aber schon lange nicht mehr solo gehört habe. Allerdings bedarf es wie bei der Geige jahrelanger Übung, bis man mit seinem Bogen jenen besonderen Klang des Cellos hervorbringt und auf seinen Saiten nicht etwa kratzt und krächzt.
Doch diese junge Frau brachte mit ihrem präzisen, federleichten Bogenstrich ihr Cello förmlich zum Singen, sorgte für einen wundervoll reinen und weichen Klang und verstand obendrein auch noch viel von lebendigen Rhythmen. Ihr war anzuhören, dass sie ursprünglich der Klassik-Welt entstammte, aber im Latin Jazz das Medium gefunden hatte, in dem sie ihr Können frei und unbeschwert unter Beweis stellen konnte...
Nur zu rasch verging auch diese halbe Konzertstunde, und für mich war es Zeit, den bequemen blauen Polstersessel zu verlassen und zur nächsten Spielstätte weiterzuwandern... Das dachte ich zumindest, doch leider stellte sich nur zu bald heraus, dass es besser gewesen wäre, wenn ich im Werk 7-Theater geblieben wäre und den nächsten Live-Gig abgewartet hätte...
Denn zum einen hatte sich mit dem nächsten Spielort, dem Technikum, niemand die Mühe gemacht, es einzurichten oder zumindest etwas ansprechender herzurichten. Es war nichts als eine kahle, spartanische Lagerhalle mit einem Podium an der Stirnseite und einer kleinen Getränke-Anrichte an einer der Längsseiten, in der sowohl die Musiker als auch ihre Zuschauerinnen und Zuschauer im leeren, wenn auch von gleißendem Scheinwerferlicht erfüllten Raum standen und irgendwie verloren wirkten.
Die Band, die nun mit ihrem Gig an der Reihe war, hätte ein Trio sein sollen: eine Leadsängerin und Keyboarderin aus London, ein Gitarrist aus San Francisco und ein deutscher Schlagzeuger, die einander in Stuttgart kennengelernt und sich zusammengetan hatten.
Doch genau am Tag ihres gemeinsamen Auftritts in München war der Schlagzeuger so akut und heftig erkrankt, dass er ausfiel; und die Sängerin musste am Keyboard ihre Rhythmus-Loops selbst einstellen, spielen und singen, praktisch den Gig alleine stemmen.
Denn der Gitarrist aus San Francisco war ihr ganz und gar keine Hilfe, im Gegenteil! Zuerst fummelte er ewig mit dem Kabel seiner E-Gitarre und dem Anschluss an der Lautsprecherbox herum, ohne dass von der Gitarre viel zu hören war. (Ich dachte, Musiker führen vor ihrem Auftritt grundsätzlich immer einen Soundcheck durch?!)
Da entweder an der Lautsprecherbox oder an seiner Gitarre etwas nicht stimmte, klampfte er recht lustlos vor sich hin; und die junge Bandleaderin musste versuchen, mit ihrer (hervorragenden) Stimme und ihrer Keyboard-Begleitung den Gig ganz alleine herauszureißen. Von "harmonisch aufeinander abgestimmt" und "spielfreudig und gut aufgelegt" konnte beim Gitarristen kaum die Rede sein, während sie sich wirklich und redlich abmühte! Keine Ahnung, was vorher hinter den Kulissen zwischen ihnen gelaufen war oder auf der Bühne nicht gestimmt hatte...
Reichlich irritiert und frustriert von diesem seltsamen Auftritt zog ich von dannen, sprich, zu dem Fisch- und Tapas-Restaurant La Tasca Flamenca am Ende der Atelierstraße kurz vor dem Riesenrad hinunter, um mir dort etwas zum Abendessen zu suchen.
Eine ordentliche Portion frisch gegrilltes Gemüse, ein Stück vom warmen würzigen Kartoffelkuchen und hinterher eine Crema catalana, wie sie sich gehörte, sorgten dafür, dass sich meine Stimmung bald wieder hob, so dass ich einen zweiten Anlauf im Festgelände wagte. Immerhin war der Abend noch jung!
Allein die hellgelb gestrichene Fassade und der verschnörkelte, baldachinartige Vorbau mit dem unverkennbaren Pfanni-Logo und der Aufschrift Willkommen in der Nachtkantine hatte etwas Anheimelndes, so dass ich die Stufen zum Eingang ins Innere des Gebäudes emporstieg. Einen kleinen Biergarten mit ein paar runden Tischen und Stühlen gab es auch, doch dort hätte man von der Musik, die drinnen gespielt wurde, nicht viel gehört.
Zwischen der Nachtkantine und dem Technikum lagen Welten, sowohl in der äußeren als auch der inneren Aufmachung. Denn während man sich bisher nicht die geringste Mühe gegeben hat, die spartanische Lagerhalle ansprechend einzurichten, war der Innenraum der Nachtkantine, zumindest der Parkettboden und die Bühne mit dunklem Holz verschalt, und es gab im Vordergrund ausreichend Stühle, die zu aufgefächerten Sitzreihen gruppiert waren, und dahinter ein paar runde Café-Tische, je nachdem, ob man nur Musik hören oder dazu auch etwas trinken wollte.
Und was ich hier von der Bühne der Nachtkantine zu hören bekam, ließ mir im positiven Sinn schier die Ohren herunterfallen. Denn der Roma-Gitarrist Sébastien Kauffmann, sein Sekundant Benji Winterstein, der Kontrabassist Antoine Godey und die Sängerin Heidi Adel sind nicht nur allesamt Profis, sondern auch eine Klasse für sich. Sie haben sich dem Gipsy Jazz bzw. Jazz Manouche im Stil von Django Reinhardt verschrieben.
Und als Sébastien Kauffmann und Benji Winterstein mit ihren Gitarren loslegten, gaben sie vom Anfang bis zum Ende Vollgas. Weiß Gott, ich glaube, selst ein As an der E-Gitarre oder ein Flamenco-Gitarrist bekommt seine Läufe und Rhythmen nicht mit dieser irrwitzigen Geschwindigkeit und Virtuosität und jenem ganz besonderen Schwung hin, die Roma-Musikern zu eigen ist!
Antoine Godey wiederum steuerte nicht nur halsbrecherische Synkopen an seinem Kontrabass bei, sondern war obendrein noch fähig, zu seinem Spiel eine Art "Perkussion-Begleitung" zu sprechsingen, in Tonsilben, die teils keinen Sinn, teils Unsinn ergeben, aber für eine zusätzliche rhythmische Stütze sorgen.
Und Heidi Adel? Ihre samtweiche, tiefe, volltönende Stimme lässt sich am ehesten mit jener von Roberta Flack oder Nina Simone vergleichen. Dabei hat ihre Stimme aber nicht jene unverkennbare "schwarze" Klangfarbe, sondern eine, die irgendwie noch älter und tiefgründiger zu klingen scheint, mit einem Unterton von Fülle und Leid, übersprudelndem Temperament und nachtdunkler Klage zugleich. Ein Klang, der einzigartig und schwer zu beschreiben, in Worten kaum und nur unzulänglich zu vermitteln ist....
Danach kehrte ich noch einmal ins Werk 7-Theater zurück, wo als vorletzte Gruppe dieses Abends Uusikuu auf dem Programm stand, ein Quintett aus Finnland, bestehend aus einer Sängerin, einem Geiger, einem Akkordeonisten, einem Kontrabassisten und einem Schlagzeuger.
Woher haben die Finnen von jenseits des Polarkreises diese Glut und dabei diese Beweglichkeit, ja Geschmeidigkeit in ihrer Stimme und ihrem Spiel, das sie als eines der wenigen Völker in Europa für den Tango Argentino geradezu prädestiniert?
Wie die Stimme der Solo-Sängerin Laura Ryhänen und die Instrumente ihrer Mitstreiter sich federleicht und schwerelos aus unermesslichen Tiefen emporwanden, wie sie sich schmiegten und schlängelten!
Neben dem Tango kennen die Finnen eine Tanzmusik, getragen von Geige, Kontrabass, Akkkordeon und Schlagzeug, deren Melodien und Rhythmen eher an die ungarische Puszta als an die Wälder und Seen Finnlands erinnern. Woher haben sie diesen ganz speziellen Rhythmus, den Schmelz ihres Gesangs und ihres Geigenspiels, die mal schleichenden, mal abrupten Tempiwechsel, die eher an Csardas-Melodien denn an Nordlichter und Polarnächte erinnern?
Es heißt, dass die finnische Sprache mit keiner anderen Sprache des europäischen Kontinents als mit der ungarischen verwandt ist. Liegt es eventuell daran, dass sowohl die Finnen als auch die Ungarn vor langer Zeit Nomadenstämme aus der Mongolei waren, die nach Europa herübergewandert sind und sich dort voneinander getrennt haben, sprich, die einen im Osten Europas rund um den Balaton geblieben und die anderen in den hohen Norden hinauf gezogen sind, weshalb auch immer?
Dann könnten beide um ein paar Ecken mit den heute noch nomadisch lebenden Sami verwandt sein, die ursprünglich auch aus der Mongolei stammen und vom Urgrund der Musik und den Elementen, die sie speisen, eine Menge verstehen...
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