Aus der Welt der bildenden Künste - Die Ausstellung "Fantasie und Realität" im Münchner Landratsamt
Die Buden- und Hüttenstadt der Auer Dult, überwacht von dem steil aufragenden gotischen Spitzturm der rostroten Maria-Hilf-Kirche, von dem um 12:00 Uhr die klaren, silberhellen Töne des Carillons über den großen ahorngesäumten Platz hallen, habe ich jedes Jahr getreu besucht, seit ich in und um München unterwegs bin.
Doch in diesem Jahr habe ich erstmals mit dem Münchner Landratsamt zu tun, dessen dreiteiliger Gebäudekomplex sich von der Bushaltestelle Schweigerstraße aus gesehen hinter der Maria-Hilf-Kirche erhebt. Für gewöhnlich hat man nur dann etwas im Landratsamt zu suchen, wenn man sich in München standesamtlich trauen lässt oder wie ich in einer der Gemeinden außerhalb der Stadtgrenzen lebt und in einer persönlichen Sache Rat und Unterstützung in Anspruch nehmen will.
Doch in diesem Jahr fand vom 16. Juli bis zum 14. August die kostenlose Ausstellung Fantasie und Realität auf der ersten, zweiten und dritten Etage des rechten Vorderflügels statt, dem Gebäudeteil A, wie er im Plan des gläsernen Zwischenbaus heißt, der die weitläufigen Trakte des Landratsamtes zusammenhält und miteinander verbindet.
Getragen wurde diese Ausstellung vom Künstlerforum Unterschleißheim, zu dem sich die Malerinnen Babette Klingenberg, Stefania Ihlefeldt, Silvia Müller-Lankow, Eva Rauch, Maria Gruber, Theresia Maier, Gisela Leiter, Linda Ferrante und Annette Wenz zusammengeschlossen haben; und alle zusammen haben mit den Acrylfarben ihrer großformatigen Gemälde die Wände des Gebäudeteils A, die sonst eher nüchtern und spartanisch anmuten, auf farbenprächtige und vielfältige Weise zu neuem Leben erweckt.
Und an einem Donnerstagnachmittag - die Öffnungszeiten der Ausstellung fiel mit jenen der Büros im Landratsamt zusammen - ergab es sich, dass ich genug Zeit hatte, um von Stockwerk zu Stockwerk zu wandern und die ausgestellten Gemälde in Ruhe zu betrachten.
Ausnahmslos beeindruckt hat mich die Ausdruckskraft ebenso wie die technische und stilistische Sicherheit, die alle Malerinnen in ihren ausgestellten Werken zeigen.
So fokussiert sich z.B. Babette Klingenberg auf die Darstellung von Alleen und Parkanlagen in drei höchst unterschiedlichen Stilvariationen: in den geraden, klaren Formen und kraftvollen Farben, von denen einst Gustav Klimts Promenadenwege geprägt waren; in leichten, heiteren, lichterfüllten Farbenspielen, die an Claude Monet nahe herankommen; und in kubistisch abstrahierten Bäumen und Gestalten, wie man sie in ähnlicher Gestalt bei Georges Bracque und beim frühen Wassily Kandinsky findet.
Eine der Alleen von Babette Klingenberg ist mir besonders ins Auge gesprungen, weil die Stämme und Äste der Bäume samt dem Geflecht der Zweige in einem dunklem, tiefem Rot gehalten sind; sie gleichen einem Querschnitt durch eine menschliche Lunge mit ihren Bronchialästen und den ihnen entspringenden netzartigen Zweigen. Der Wald bzw. Park als Lunge einer Stadt...
Eine ganz andere Bildersprache spricht ihre Kollegin Silvia Müller-Lankow. Ihre Werke möchte ich als zeit- und gesellschaftskritisch bezeichnen, und ihr Stil liegt in etwa zwischen Max Beckmann und James Ensor. In ihrem Gemälde Der Fall K. sitzt die Gestalt einer Frau mit dem Rücken zum Betrachter auf einem altrosa Koffer und hält einen Teddybären in der Hand, während eine grelle Glühbirne eine kahle nackte Wand beleuchtet und ihr Blick sich auf eine in grellem Rot leuchtende, von schwarzen Schatten umgebene Treppe richtet; beides Elemente, die im Betrachter Unbehagen und Beklemmung wecken.
Ein ähnliches Unbehagen ruft in ihrem Bild Maskenball eine Karnevalsgesellschaft von fünf Frauen hervor, die in farbenprächtige wallende Gewänder gekleidet sind, deren Mienen aber ausnahmslos Kälte, Distanz und Hochmut ausstrahlen. Hinzu kommt, dass ihre Augen entweder geschlossen oder verdeckt sind; sprich, all diese Frauen sehen nichts bzw. sehen nichts und niemanden an...
Doch am größten ist das Unbehagen, ja die Beklemmung, die sich einstellt, wenn man das Gemälde Sieh dich nicht um, der V... geht um betrachtet, das Silvia Müller-Lankow der Erinnerung an die C-Zeit gewidmet hat.
Im linken Vordergrund steht eine Gestalt, die über ihrem schwarzen blickdichten Anzug einen Tüllrock und Beinstulpen in Petrol trägt und einen blassblauen Schirm aufgespannt in der linken Hand hält. Mit ihrem kahlen bleichen Schädel hinter der FFP2-Maske, ihrem strengen schwarzen Anzug und den seltsam verspielt anmutenden Accessoires wirkt diese Gestalt androgyn; doch ganz gleich, ob sie auf den Betrachter eher männlich oder eher weiblich wirkt, sie erscheint ebenso bedrohlich und gespenstisch wie die breite, fast leere Straße hinter ihr, die in einem fahlen blassblau-weißen Licht schimmert.
Ja, dieses Gemälde verkörpert eindrucksvoll das lautlos schleichende Grauen, die kalte Isolation und die leere, kahle Nacktheit der Städte, die mit dem C-Virus über die Welt kam. Zwar nur eine kurze Episode in der Geschichte der Menschheit, doch wer sie bewusst erlebt hat, vergisst sie nicht!
Das künstlerische Schaffen ihrer Malerkollegin Theresia Maier wiederum hat zwei sehr unterschiedliche Gesichter. So zeigt ihr Bild Fantasie und Realität - Was ist noch wahr? Menschen mit Smartphones und Virtual Reality-Brillen an der Schläfe. Die Gesichter dieser Menschen verschmelzen mit ihrem technischen Equipment, während ihre Mienen von Leere und Geistesabwesenheit gezeichnet sind und ihre Augen an ihrem jeweiligen Gegenüber leer und blicklos vorbeistarren. In Realität & Fantasie - KI-Scanning - Illusionen sieht man einen Menschenkopf, durch dessen Schädel und Gesicht sich Koordinaten und Skalen ziehen, sprich, dessen Denken und Fühlen vom undurchschaubaren Moloch KI bis ins Letzte erfasst und kontrolliert wird.
Ganz anders sind dagegen ihre drei Impressionen aus dem Schleißheimer Schlosspark gestaltet. Hier ruht eine echte venezianische Gondel auf dem Schlosskanal, gesäumt von Blumenrabatten in lichten, farbenfrohen Tönen, gefolgt von zwei Ansichten des kleinen Schlosses Lustheim am anderen Ende des Parks, eingebettet in seinen ebenso üppig wie verspielt anmutenden Rokoko-Garten.
Ich kann mir nicht helfen, aber in Theresia Maiers Parkansichten und ihren Stillleben mit Lilien, die durchweg lichte, heitere, zeitlose Schönheit atmen, fühle ich mich wohl und zu Hause, während ich ihr Unbehagen an der digitalen Revolution und ihren Auswirkungen auf Geist und Seele der Menschen, die ihr ausgesetzt sind, in vollem Umfang teile...
Ebenso wohl fühle ich mich bei der Betrachtung der großformatigen Tierporträts von Maria Gruber. Denn es sind beeindruckende Wesen, die den Betrachter aus ihrem schwarzen Hintergrund heraus geradezu anspringen. Wie der Kopf des Tigers vor diesem Schwarz flammt und leuchtet! Wie hinter- und tiefgründig die Miene und der Blick des Gorillas wirkt, von dem man fast nur die in hellem Gold strahlenden Augen sieht, während sein Kopf im Schatten bleibt; und welche Kraft und welches Feuer vom Kopf und von der Mähne eines weißen Pferdes ausgeht, die von einem blauen Schein umflossen sind!-
Zu einer ähnlich starken Ausdrucksweise hat ihre Kollegin Stefania Ihlefeldt gefunden, nur, dass sie keine Tiere porträtiert, sondern Menschen, die noch Persönlichkeiten mit einem lebendigen, fühlenden, ja glühenden Gemüt sind, wie z.B. ihre Roxana mit ihrem vollen flammenden Gesicht, umrahmt von der Fülle ihres lockigen schwarzen Haares und einer nicht weniger üppigen Blumengirlande, oder ihre ätherisch schöne Leda mit dem Schwan, deren Züge Sinn und Sinnlichkeit zugleich verströmen.
Zu erleben, dass es hier und heute noch Künstler gibt, die meinen, dass das Wesen des Menschen nach wie vor mehr ist als nur ein Teil der digitalen Welt, hat mich beruhigt und ermutigt...
Auch Stefania Ihlefelds Kollegin und Mit-Malerin Gisela Leiter interessiert sich nach wie vor für das Wesen des Menschen an sich, was sie u.a. in ihren abstrakten Gemälden Urgrund der Seele und Zeig dich wie du bist zum Ausdruck bringt. In beiden Bildern sieht man goldschimmernde Schleier und Flächen vor einem leuchtend blauen Hintergrund.
Doch eigenartigerweise sprechen mich diese beiden Gemälde nicht so sehr an. Vielleicht, weil ich meine, dass der Urgrund einer Seele und ihr Erscheinungsbild nicht immer nur heiter-golden und strahlend blau im Sinne von „alles bestens" ist...
Das Schaffen von Annette Wenz wiederum ist von einem ganz anderen Fokus und Ausdruck geprägt.
Zum einen konzentriert sie sich auf Landschaften, die mit Wasser zu tun haben, sei es ein Wasserfall, der sich vom breiten Kamm eines Felsplateaus in die Tiefe stürzt (meint sie damit die Victoria-Fälle des Kongo und des Sambesi an der Grenze zwischen Tansania und Kenia?), ein Seestück, sprich ein Blick auf Himmel und Meer, oder ein Flusslauf, der sich durch eine üppig wogende Wiese schlängelt.
Zum anderen sind diese Landschaften strikt nach der Natur gemalt und in dunklem Blau, Grau, Weiß und Schwarz gehalten. Dennoch verströmen die dunklen, gedämpften Farben weder Unbehagen noch Beklemmung; eher wirken sie beruhigend und ausgleichend auf das Gemüt, je länger man den Blick in sie versenkt.
Und dann sind da noch die Bilder von Linda Ferrante. Ihre Papageien und Paradiesvögel, die auf belaubten Ästen sitzen, und ihre Neonfische haben mich in der klaren Reinheit ihrer Farben, in ihrer reinen Gestalt ohne Schnörkel und Zierrat und ihrer Zweidimensionalität an einige Beispiele der Farb-Holzschnitte Japans erinnert, die ich etwa zwei Monate zuvor in der gleichnamigen Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek gesehen hatte...
Gegen Ende meines Rundgangs durch die Ausstellung ließen mich zwei Bilder von Eva Rauch innehalten und besonders aufmerken.
Ihre schwarzen Linien und Bögen vor einem steingrauen Hintergrund, betont von ein paar weißen Flächen und drei roten Kugeln in Fantasie mit Formen, erinnerten mich in ihrer ruhigen, präzisen Klarheit an Paul Klee und Joan Miró, während ihr schlichtes aber kraftvolles Stillleben Apfelernte mit iseinen großen leuchtenden Äpfeln, die um die Äste eines Baumes verteilt liegen, an Gabriele Münter und Maria Franck-Mark von den Blauen Reitern...
Mein Fazit:
Wie schon eingangs erwähnt, besteht aus meiner Sicht am technischen Können wie auch an der Ausdruckskraft und Vielseitigkeit der Malerinnen vom Künstlerforum Unterschleißheim nicht der geringste Zweifel.
Nur scheint mir, wenn ich ihre Werke betrachte, dass ihre Motive und Stile alle schon einmal da gewesen sind, vom Naturalismus und Impressionismus über den Jugendstil, den Blauen Reiter und den Expressionismus bis hin zur Postmoderne und zur Pop Art.
All diese Kunststile waren für mich deutlich zu erkennen, als ich mich auf den drei Stockwerken im Gebäudeteil A des Münchner Landratsamtes umsah, und verschafften mir jede Menge "Wiedersehen macht Freude"-Effekte.
Alles in allem hielten sich die Malerinnen der Ausstellung Fantasie und Realität an zeitlos gültige Motive und Ansichten; nur wenige von ihnen wagten sich mit einer Aussage zu unserem aktuellen Zeitgeist ans Licht.
Hier hätten sich z.B. die Expressionisten früherer Zeiten mehr getraut...