Das Erdgeschoss - Der Trost der Dinge und die Skizzenbücher von Orhan Pamuk
Nie habe ich erwartet, im Erdgeschoss des Lenbachhauses unverhofft auf einen Geistes- und Seelenverwandten zu stoßen!
Seit April dieses Jahres ist hier die Ausstellung Der Trost der Dinge zu Gast, die von dem Schriftsteller, Maler, Graphiker und Museumsstifter Orhan Pamuk aus Istanbul ausgestattet und eingerichtet wurde.
Aus Erinnerungsstücken aus seinem Elternhaus und seiner eigenen Wohnung, die von den späten 1950er bis in den Anfang der 2000er Jahre reichen, hat Orhan Pamuk in seiner Heimatstadt Istanbul das Museum der Unschuld aufgebaut und im Jahr 2012 eröffnet; und wenn ich die Einführung zu der Ausstellung richtig verstehe, hat er diese greifbaren Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend auch zum Gegenstand seines gleichnamigen Romans gemacht.
Er handelt von der unerfüllten, tragischen Liebe des Industriellensohnes Kemal zu seiner Cousine Füsun; und obwohl er sie auf immer verliert, ist sie ihm in den Gegenständen, die ihr einst gehört haben bzw. die in Kemal Erinnerungen an sie auslösen, ständig gegenwärtig.
Die Ausstellung ist im Wesentlichen in Setzkästen gegliedert; und der erste Setzkasten, der den Rundgang eröffnet, zeigt einen goldgelben Damenschuh, einen gleichfarbigen Gürtel und eine Handtasche, die man in vergleichbarer Form und Farbe heute noch mitnimmt, wenn man abends ausgeht.
In einem anderen Setzkasten oder Schrein der Erinnerung taucht je ein Beispiel für die winzigen Teetassen und Zuckerdosen auf, wie man sie zum Teil noch heute in Cafés des Vorderen Orients sieht; ebenso wie der Samowar zum Teeaufbrühen und Warmhalten, und die Etagere, die einem Tischleuchter ähnelt, aber dazu dient, Konfekt ansprechend zur Geltung zu bringen.
Anderswo wiederum sieht man ein Toilettensortiment aus den 1950er Jahren über einem alten Waschbecken und auch die Hausapotheke vor einer Reihe von Erinnerungsfotos, die an der hinteren Wand des Setzkastens befestigt sind.
Nach der Auffassung von Orhan Pamuk sind es solch kleine prosaische Alltagsgegenstände, die uns ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit vermitteln, weil sie uns in unserer Kindheit und Jugend begleitet haben und weder Kritik noch gar Tadel, sondern etwas Wohlwollendes, ja Tröstliches vermitteln. Sie erfüllen uns mit der Gewissheit, dass es sehr wohl schöne Dinge im Leben gibt, die ihren Wert und ihre Bedeutung nicht verlieren, weil sie in unserer Lebensgeschichte einen ganz bestimmten Platz einnehmen.
Auch dann, wenn es in unseren Erinnerungen auch andere Setzkästen gibt, die ein Gefühl der Dunkelheit und Beklemmung oder gar des Eingesperrtseins vermitteln. Meist sind es Moralvorstellungen und -gesetze, die uns in unserer Kindheit und Jugend eingeengt, bedroht oder gar Schaden zugefügt haben.
Jene zu dreidimensionalen Stillleben arrangierten Gegenstände sprechen uns allein durch ihre Erscheinung an und lösen auf dem Grund unseres Seins einen Widerhall aus, auch wenn man als Betrachtende(r) kein Wort Türkisch versteht und spricht.
Mir geht es vor allem dann so, wenn ich die in Diamontagen ausgestellten Skizzenbücher von Orhan Pamuk betrachte. Mal zeigen sie eine Berglandschaft und darunter einen Titel und eine kurze Anmerkung; mal gehen die festgehaltenen Worte mit dem vielfarbigen Untergrund eine Einheit ein; manche Blätter sind einfach gemalte Poesie und Phantasie, die keiner Worte bedarf, um direkt zu meinem Gemüt zu sprechen.
Doch am meisten zu Hause fühle ich mich auf den Seiten seiner Skizzenbücher, auf denen der Text dominiert, sich aber ein bestimmtes Bild gleich einer Banderole quer über zwei aufgeschlagene Seiten zieht. Mir ist, als zeige Orhan Pamuk hier Seiten aus meinem eigenen kreativen Prozess des Schreibens:
Ich sehe ein Bild vor meinen Augen und halte es in meinen Worten fest, oder das Bild, das ich sehe, löst in der Tiefe meines Seins einen Widerhall mit Schwingungen aus, die sich zu Worten formen, sobald ich mein Notizbuch zur Hand nehme und meinen Stift auf ein freies Blatt setze. Der Widerhall, die Schwingung, die der Eindruck in mir bewirkt hat, strömt wie von selbst aus mir heraus und bleibt in Worten auf dem Papier zurück...
Nur, dass ich nicht wie Orhan Pamuk die Bilder, die ich vor Augen habe, zeichnen und malen kann. Arbeite ich mit Bunt- oder Faserstiften, gelingen mir zwar Farbrhythmen und Formen, aber keine klaren und vor allem schönen Linien, mit denen ich Menschen oder Details in einer Landschaft oder Stadt gerne wiedergeben möchte.
Und wenn ich mit Pinseln und Flüssigfarben hantiere, laufen bei mir die Farben nur ineinander und werden zu einem vagen, undeutlichen Geschmier, wo ich gerne Klarheit hätte.
Gleichviel: Anhand der Skizzenbücher von Orhan Pamuk weiß ich jetzt, dass es außer mir mindestens noch einen Schriftsteller gibt, dessen Schreiben im Wesentlichen ein Auf-das-innere-Echo-Lauschen und Aus-der-Tiefe-heraus-Meditieren ist, das bei ihm wie bei mir zu Worten gerinnt... Ich spüre, dass es bei ihm ist wie bei mir, auch wenn ich kein Wort Türkisch verstehe.
Und anhand seines Beispiels weiß ich jetzt auch, dass es durchaus legitim ist, in der Welt der Literaten Leitsterne zu haben. Denn Pamuk hat sich klar zu seinen literarischen Vorbildern bekannt: Dante, William Blake, Edgar Allan Poe und die großen Russen Tolstoi und Dostojewski.
Also kann auch ich mich zu meinen Leitsternen bekennen: Gotthold Ephraim Lessing, Goethe und Schiller (zusammen und zugleich als Gegenpole), die Schwestern Brontë und Stefan Zweig.
Niemand, der schreibt, ist allein aus sich selbst heraus zum Schriftsteller oder Dichter geworden; sie oder er hat in seiner Jugend zu bestimmten Werken bestimmter Autoren gegriffen, die - ein jedes in seiner eigenen und unverwechselbaren Art - in ihr/ihm eine Flamme entzündet haben, die nichts und niemand auszulöschen vermochte.