Das Sendlinger Hoftheater im Stemmerhof und "La Vie en Rose"
Für mich hat es einen besonderen Reiz, vom Harras aus der rechten Seite der Plinganserstraße zu folgen und von diesem Hügelgrat, der sich durch das alte Sendling zieht, in die Hinterhöfe zu blicken, zu denen eine kleine winklige Treppe oder eine steile Gasse hinab führt; und gerne sehe ich auf meinem Spaziergang zum Zwiebelturm der alten Sendlinger Pfarrkirche hinüber, hinter der sich der kleine grüne Park mit dem Denkmal des Schmieds von Kochel erhebt.
Im Lauf der letzten vier Jahre bin ich am Sonntag ab und zu in dem steirisch-österreichischen Restaurant ÖEins eingekehrt, das im Erdgeschoss der ehemaligen Scheune des Stemmerhofs liegt; und seit gut zwei Jahren sticht mir immer wieder der Schriftzug "Hoftheater" ins Auge, der sich zusammen mit dem Stück und dessen Spielzeit über den großen offenen Torbogen neben dem ÖEins zieht.
Am letzten Samstag war es für mich soweit: Auf dem Programm stand La Vie en Rose, eine Hommage an die Pariser Chanson-Legende Edith Piaf, die von der Sängerin und Schauspielerin Meike Fabian und ihrem Quartett getragen wurde. Und bei dem Namen Edith Piaf klingelt es bis heute in mir...
Also verschaffte ich mir über das Internet ein Ticket für die zweite Kategorie zum Preis von € 26,--.
Die erste Kategorie kostet € 30,--, doch wie im Werk 7-Theater im Werksviertel und im Metropol in Freimann gibt es auch im Sendlinger Hoftheater keine nummerierten Plätze.
Da ich damit rechnete, dass das ÖEins vor Beginn der Vorstellung brummen würde, so dass es dort eng, wenn nicht überfüllt zuging, kehrte ich zur Stärkung für meine Theaterpremiere diesmal im Sendlinger Balkantreff ein, den ich mittlerweile ebenfalls gut kenne und der nur wenige Häuser vor dem Stemmerhof auf der linken Seite der Plinganserstraße liegt.
Zu diesem Restaurant, das sich der serbischen Küche widmet, gehört ein kleiner Wirtsgarten mit Tischen und Bänken, die das ganze Jahr hindurch mit Tannenzweigen und Lichterketten geschmückt sind, und ein noch kleineres Häuschen, das mit seinem rosa Anstrich, seinen dunkelgrünen Fensterläden und seinem spitzen Giebel unter dem Schindeldach einen schmucken Anblick bietet und sich im hinteren Ende des Wirtsgartens versteckt.
Die Innenausstattung besteht aus zwei großen Eckbänken und zwei kleinen Tischen aus schlicht aber solide gezimmertem Holz; und an einem der kleinen Tische quartierte ich mich zum Abendessen ein.
Auch wenn ich unter der Woche überwiegend vegetarisch lebe, überkommen mich dann und wann Gelüste nach deftig Gegrilltem aus der Pfanne; und hierfür ist der Balkantreff die richtige Adresse.Mit einer Handvoll čevapčiči und einen Schaschlikspieß - eine Kombination, die hier Pola Pola heißt und mit roten Zwiebeln, Ajwar und Pommes frites oder Djuvecreis serviert wird - macht man hier nichts verkehrt.
Im Sendlinger Balkantreff habe ich eine Köstlichkeit kennengelernt, der ich bisher in keiner anderen Gaststätte begegnet bin: eine Kreuzung zwischen einem Brötchen und einem Kuchen, die in der Konsistenz des Teiges einem britischen Scone ähnelt, aber aus Maismehl gebacken wird.
Diese Kreuzung zwischen Brötchen und Kuchen schmeckt nicht süß, sondern salzig, da das Maismehl mit klein geschnittenem Käse vermengt wird; und nach dem Backen wird das zu einem Oval aufgewölbte Endergebnis mit edelsüßem Paprika überstäubt. Und ich kann schwören, dass zu diesem salzigen, noch warmen Maisbrötchen nichts besser schmeckt als eine große Tasse heiße Schokolade!
Gestärkt und frohen Sinnes zog ich weiter und bog in das mächtige Geviert des Stemmerhofs ein. Ich ging auf den hell erleuchteten halbrunden Bogengang zu, über dem in Großbuchstaben "Theater" geschrieben steht, so dass der rechte Weg nicht zu verfehlen ist.
Die Treppe, die gleich nach dem Eingang zu den oberen Stockwerken hinauf führt, wurde ganz aus Holz gezimmert; ihre Stufen knarren und ächzen unter jedem Schritt. Im ersten Obergeschoss führt links eine Tür zu dem Maleratelier von Jonathan Gordon, der hier immer wieder einmal seine neuesten Werke ausstellt; und nach rechts geht es zu einem Vorraum, der, klein und dunkel wie er ist, einer Höhle ähnelt; sprich, zur Abendkasse und Garderobe des Sendlinger Hoftheaters.
Die Abendkasse, an der man eine Stunde vor der Vorstellung locker noch Tickets bekommt, wird von einer Dame Ende Zwanzig/Anfang Dreißig bedient. Die Garderobe kostet nichts; allerdings besteht sie nur aus einer Stange und vielen Bügeln, an denen man Jacken oder Mäntel selbst aufhängt. Ihre gleichaltrige Kollegin kontrolliert am Eingang zum Theatersaal die Tickets und weist den Gästen die Reihen bzw. Plätze zu, die noch frei sind und der gebuchten Kategorie entsprechen.
Der tiefste Punkt im Saal ist die Bühne, noch kleiner als beim Metropol-Theater in Freimann und nur durch eine leicht erhöhte Plattform von den Stuhlreihen im Parkett getrennt. Das heißt, eine Bühnenrampe gibt es hier nicht, auch keinen Vorhang, wohl aber eine Tür in der linken Wand, die zu dem Raum führt, der den Künstlern vor ihrem Auftritt vorbehalten ist. Die Plätze im Parkett vor und rechts neben der Bühne und an der umlaufenden Brüstung des ersten Rangs sind der ersten Kategorie vorbehalten; alle weiteren Sitzreihen, auch die im zweiten Rang unter der Dachschräge, gehören in die zweite Kategorie.
So klein die Bühne ist, bietet sie dennoch genügend Platz für ein Klavier an der linken Wand vor dem Künstlereingang, einen Kontrabass rechts vom Klavier an der gemauerten Hinterwand des Dachstuhls, zwei weitere Stühle in derselben Reihe, vorne in der Mitte einen hohen und ein niedrigeren Barhocker, und vor jedem Stuhl bzw. Hocker ein Mikrophon.
Die Betreiberinnen des Sendlinger Hoftheaters verstanden es, ihre Bühne mit den wenigen Mitteln, die noch Platz fanden, stimmungsvoll einzurichten. Vor jedem Stuhl mit Mikrophon stand eine Bodenvase aus Messing mit einem Strauß dunkelroter Rosen, und die runden Scheinwerfer an der Decke tauchten Bühne und Zuschauerraum in kleine pinkfarbene Lichtkegel, um die herum tiefe Schatten nisteten.
Da dieses winzige Theaterchen auf Distanz zwischen den Zuschauern im Parkett und dem Geschehen auf der Bühne verzichtet, hat es mit den roh gemauerten Ziegelwänden des Dachstuhls und den hölzernen Dachschrägen etwas Uriges, das sofort Behagen einflößt, wozu auch die Bar an der rechten Wand des Zuschauerraums beiträgt, die auf gleicher Höhe mit dem ersten Rang liegt, in dem ich an diesem Abend saß.
Ich nützte die Gelegenheit, um mir bei der Dame hinter dem Tresen einen Prosecco Orange zu holen, den man vor der Vorstellung mitnehmen und am Platz schlürfen darf. So rasch und unkompliziert bin ich noch in keinem Theater zu einem Getränk gekommen!
Also genoss ich meinen Prosecco, brachte das Glas zur Bar zurück und stieg vor Beginn der Vorstellung auf der knarrenden, ächzenden Treppe einen Stock höher, zum Dachfirst des Stemmerhofs hinauf, in dem Daniela Paschke ihre Malschule und ihr Atelier eingerichtet hat und sich auch die Toiletten des Hauses befinden.
Dann kehrte ich rechtzeitig auf meinen Platz im Zuschauerraum zurück, bevor die pinkfarbene Beleuchtung im Saal erlosch und der große Flutlichtscheinwerfer die Bühne in seinen Lichtkegel tauchte. Die Musiker kamen und nahmen ihre Plätze ein: eine Geigerin, ein Akkordeonist, ein Kontrabassist und ein Pianist, der die Chansons für Meike Fabian und sein Quartett arrangiert hat.
Genau diese Instrumente, Klavier, Geige, Akkordeon und Kontrabass, sind für die Chansons der 1940er/1950er Jahre unerlässlich, um einem langsamen oder rasanten Walzer, einem Slowfox oder Quickstep das richtige Flair zu verleihen und das Publikum in die Zeit zu entführen, als Edith Piaf in Paris das Olympia eroberte und bei jedem Auftritt ihr Publikum fesselte und begeisterte.
Schließlich erschien Meike Fabian, die Sängerin, die mit dem Musikerensemble die Chansons für diesen Abend ausgewählt und erarbeitet hat. Sie strahlt Wärme und Unkompliziertheit aus; ihre ausgebildete, tragfähige Stimme klingt voll, warm und rund. Vom Anfang bis zum Ende ihres Auftritts hörte man in ihr die kultivierte Dame, der es dennoch gelang, ihrem Publikum nahe zu kommen.
Zu Beginn des Programms meinte ich noch eine Distanz zwischen ihr und den Chansons zu spüren. Doch als sie später aus den Tagebuchnotizen von Marlene Dietrich las, die Edith Piaf in den USA kennenlernte und zu einer ihrer besten Freundinnen wurde, und den Chanson sang, der zum Inhalt der Aufzeichnungen passte, wuchs sie...ich möchte nicht sagen, in die Piaf, aber in die Bedeutung und Tiefendimension ihrer Lieder hinein.
Meike Fabian hielt während des gesamten Abends Kontakt zu ihrem Publikum und hatte es auf einen bestimmten Mann im Parkett entweder abgesehen oder kannte ihn gut; denn während des Abends warf sie ihm immer wieder Blicke und Bemerkungen zu, von denen er geschmeichelt, wenn nicht gar angeregt wirkte...
Wenn sie auf die prägenden Stationen im Leben von Edith Piaf einging, spürte man ebenfalls Distanz; doch sobald sie aus den Aufzeichnungen der Dietrich oder der Piaf selbst las, lag in ihrer Stimme Wärme und Anteilnahme.
Wenn man weiß, dass zwei Menschen, die ihr mehr bedeutet haben als alle anderen - René Leplée, der sie nicht nur entdeckte und an sein Varieté holte, sondern auch der erste Mann in ihrem Leben war, der sich wie ein Vater um sie gekümmert hat, und der Boxweltmeister Marcel Cerdan, den sie in den USA kennenlernte und als die Liebe ihres Lebens bezeichnet hat - jäh aus dem Leben gerissen wurden, gewinnen Chansons wie Mon Dieu und Hymne à lAmour eine Tragik, die einem heute noch das Herz im Leib umdreht...
Alles in allem haben Meike Fabian und ihr Musiker-Quartett ihrem Publikum einen Abende voller Esprit und Charme und einen Ausflug in eine weit zurückliegende Zeit bereitet, die ganz anders war als unsere.
Wie es mir dabei erging?
Ich war von der Wärme und Nähe berührt, mit der sie ihre Chansons sang und ihre Musiker spielten. Und doch trat einmal mehr der Faktor zu Tage, der sich unweigerlich zeigt, wenn eine Interpretin in solch eine Rolle schlüpft und sie auszufüllen versucht:Meike Fabian hat die Geschichte der Piaf, ihre Art des Vortrages und den Gehalt ihrer Chansons intensiv studiert und sich damit auseinandergesetzt, daran besteht kein Zweifel.
Doch sie musste sich ihre Chansons nicht aus bitterer Armut und Verlorenheit, praktisch aus dem Nichts heraus erarbeiten, wie es bei der echten Edith Piaf der Fall war. Und leider sitzt einem die Stimme der Piaf mit im Ohr, wenn man sie einmal gehört hat; und so war es an diesem Abend auch bei mir:
Eine Stimme, mächtig und voluminös wie eine Glocke aus Eisenerz und Messing, die in den Tiefen donnert und grollt wie eine Gewitterwolke und in den Höhen mit ihrer durchdringenden Kraft sogar über die Posaunen und Trompeten eines Orchesters hinweg schmettert...
Eine Stimme, in deren Klang zugleich das Leben und Treiben einer Stadt mitschwingt. Irgendeine Stadt? Nein, jenes ewig brausende, ewig vorwärts drängende, in seiner Größe, Härte und Kälte furchteinflößende Etwas namens Paris, dessen Gesichter Edith Piaf alle kannte, die gnadenlosen, düsteren und bitteren ebenso wie die menschlichen, strahlenden und triumphierenden.
Und eine Stimme, die sich aus Dunkelheit und abgrundtiefem Schmerz ans Licht empor kämpft, die in ihren intensivsten Momenten eine markerschütternde Wucht anzunehmen vermag. In einem Chanson hat Edith Piaf die Wirkung ihrer Stimme in etwa so formuliert: "Es ist nicht allein meine Stimme, die singt; es ist eine Menge an Stimmen. Es ist die Stimme eines Vogels, der erfriert; die eines Kindes, das geohrfeigt wird; die eines Herzens, das zerschellt..."
Und genau das schwang in ihrer Stimme mit: das Leid der Verlassenen und Verlorenen dieser Welt und ihre flammende Anklage gegen ihr Leid und Unglück.
Doch einen Glauben ließ sie sich ihr Leben lang nicht nehmen: ihren unerschütterlichen Glauben an die Liebe als höchste und stärkste Macht auf Erden, deren Sieg sie schmetternd und triumphierend verkündete. Dies waren die Elemente, die Edith Piafs Leben bedingt haben und von denen sie sang.
Meike Fabian mag all dies begriffen und zum Teil übernommen haben. Doch sie hat es übernommen, es entsprang nicht ihrem eigenen Erleben und Empfinden; und darin liegt der Unterschied zwischen der Interpretin und dem Original, den man spürt, wenn man beide kennt und der sich einfach nicht leugnen lässt.
Dafür kann sie nichts, und sie und ihre Musiker haben ihre Sache an diesem Abend so gut gemacht, wie es irgend möglich war.
Andererseits ist das Original schon vor langer Zeit erloschen. Im Angesicht dieser Tatsache finde ich es bemerkenswert, dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg junge Menschen immer wieder auf eine Sängerin/ einen Sänger stoßen, deren Musik, Schaffen und Streben sie für sich entdecken. Es liegt etwas darin, das sie packt und nicht mehr loslässt, bis sie beginnen, es umzusetzen und dem zu antworten, was diese Musik, dieses Schaffen und Streben in ihnen auslöst.
Durch das, was sie als Resultat ihrer Bemühungen über die Bühne bringen, entzünden sie die Fackel immer wieder aufs Neue, tragen sie weiter und sorgen dafür, dass die Legende dieser Sängerin/dieses Sängers nicht erlöscht.
In diesem Sinne gebührt Meike Fabian und ihrem Quartett großes Lob und Dank!