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Blog

Musik und Emotionen

Im Blog-Bereich „Weggefährten“ schildere ich u.a. meine Begegnungen mit wegweisenden Musikern des 20. Jahrhunderts...



Vorwort zu meinem Blog-Bereich „Musik oder Channeling?“ Im Blog-Bereich „Weggefährten“ schildere ich u.a. meine Begegnungen mit wegweisenden Musikern des 20. Jahrhunderts. Ich hätte sie auch im Bereich „Musik oder Channeling?“ unterbringen können; doch ihr Einfluss ging bei mir tiefer, dauerte länger an und tauchte immer wieder auf.

In „Musik oder Channeling?“ soll es um Musiker-/innen, Sängerinnen und Sänger gehen, die auf ihre ganz besondere Weise mehr waren und sind als musikalische Eintagsfliegen oder Pop- oder Schlager-stars, die man kurz kennt, die aber keine weiteren Hits mehr landen und ebenso schnell wieder in Vergessenheit geraten, wie sie gleich Raketen aus dem Boden senkrecht nach oben geschossen sind.

Eines haben all diese Musiker/-innen, Sängerinnen und Sänger gemeinsam: Wenn sie auf der Bühne stehen, scheinen sie etwas außerhalb ihrer selbst „herunterzuholen“ und durch sich strömen zu lassen, dienen nicht sich selbst, sondern dem, was sich durch sie hindurch ausdrücken will; deshalb die Überschrift „Musik oder Channeling?“.

Wenn auch Ihr solche Leute kennt oder gekannt habt, nur zu! Schreibt mir/uns davon!


02.02.2024 - Wie Mensch und Tod einander begegnen
Über den Himmel und über Gott hat sich Jacques Brel mokiert und Bigotterie und Frömmelei scharf aufs Korn genommen; er hatte zu beidem durchweg eigenwillige Ansichten. Und doch hat ihn schon in seinen jungen Jahren, lange bevor er von seiner Krebserkrankung erfuhr und ihr mit neunundvierzig Jahren erlag, der Gedanke an den Tod immer wieder beschäftigt; oder eher die Frage, wie man ihm als Mensch am besten begegnet. Viele berühmte Künstler, die jung gestorben sind, hat der Tod jäh und plötzlich aus dem Leben gerissen, so schnell, dass sie nicht damit gerechnet haben, wie Buddy Holly oder Aaliyah, die mit dem Flugzeug abgestürzt sind; oder sie wurden erschossen wie Sam Cooke, Marvin Gaye oder John Lennon. Andere aber scheinen früh zu ahnen, dass ihr Leben kurz sein wird; und zu ihnen hat wohl auch Jacques Brel gehört. Nach seinen Aussagen in den Chansons "Le Moribond" und "Vieillir" ist der Tod zwar ernst zu nehmen, aber nicht zu fürchten; eine saubere, anständige Angelegenheit, der man als Mensch mit Stil und Haltung zu begegnen hat. Schlimmer und furchtbarer als der Tod ist für Jacques Brel ein Altern, das mit schleichendem, unaufhaltsamem Verfall einhergeht, das dem Menschen die Freude am Leben raubt und ihn von der Welt und den Menschen verlassen zurücklässt, so wie er es in "Les Vieux" schildert. Dann wird das Schnurren des Pendels der Uhr im Salon zur ewigen, in seiner Einförmigkeit und Gleichgültigkeit unerbittlichen Mahnung: “Ich warte auf dich!”


Wie Mensch und Tod einander begegnen
 

Über den Himmel und über Gott hat sich Jacques Brel mokiert und Bigotterie und Frömmelei scharf aufs Korn genommen; er hatte zu beidem durchweg eigenwillige Ansichten.

Und doch hat ihn schon in seinen jungen Jahren, lange bevor er von seiner Krebserkrankung erfuhr und ihr mit neunundvierzig Jahren erlag, der Gedanke an den Tod immer wieder beschäftigt; oder eher die Frage, wie man ihm als Mensch am besten begegnet.

Viele berühmte Künstler, die jung gestorben sind,  hat der Tod jäh und plötzlich aus dem Leben gerissen, so schnell, dass sie nicht damit gerechnet haben, wie Buddy Holly oder Aaliyah, die mit dem Flugzeug abgestürzt sind; oder sie wurden erschossen wie Sam Cooke, Marvin Gaye oder John Lennon.

Andere aber scheinen früh zu ahnen, dass ihr Leben kurz sein wird; und zu ihnen hat wohl auch Jacques Brel gehört. Nach seinen Aussagen in den Chansons Le Moribond und Vieillir ist der Tod zwar ernst zu nehmen, aber nicht zu fürchten; eine saubere, anständige Angelegenheit, der man als Mensch mit Stil und Haltung zu begegnen hat.

Schlimmer und furchtbarer als der Tod ist für Jacques Brel ein Altern, das mit schleichendem, unaufhaltsamem Verfall einhergeht, das dem Menschen die Freude am Leben raubt und ihn von der Welt und den Menschen verlassen zurücklässt, so wie er es in Les Vieux schildert.

Dann wird das Schnurren des Pendels der Uhr im Salon zur ewigen, in seiner Einförmigkeit und Gleichgültigkeit unerbittlichen Mahnung: “Ich warte auf dich!”

In Mon Dernier Repas hat sich Jacques Brel seinen Abschied vom Leben als ein Fest vorgestellt:

Von seinem Fenster aus hat er eine Ebene und eine Hügelkuppe im Blick, die sich im Wind wiegt und tanzt. Um sich herum versammelt er seine Brüder und Cousins, seine Freunde und Geliebten und seine Tiere. Es wird noch einmal vorzüglich gegessen und getrunken, Fasan aus dem Périgord und Muskatellerwein.

Nach dem Festmahl verabschiedet er seine Gefährten, will, dass sie ihn allein lassen. Dann, während er ein letztes Mal Angst hat, schwebt sein Geist über die Ebene zur Hügelkuppe hinüber, die im Wind wogt und tanzt...

In Le Moribond klärt er mit seinem Freund, seinem Beichtvater, seinem Nebenbuhler und seiner Frau die letzten Angelegenheiten, die es nach seinem Ableben zwischen ihnen zu regeln gibt. Bei der Beerdigung will er, dass alles lacht und tanzt und sich wie verrückt amüsiert, während er in die Grube fährt...

Seine letzten Lebensjahre und sein Abschied von dieser Welt verliefen doch ein wenig anders.

In den letzten Jahren gab er seine Gesangskarriere auf und auch die Filme, die er drehte, hatte vom Trubel und Zirkus des Konzert- und Tourneelebens und vom hektischen, gereizten Leben in Paris und anderen Großstädten dieser Welt die Nase voll. Mit einer kleinen Segelyacht, seiner Tochter und seiner letzten Lebensgefährtin reiste er quer über den Atlantik und durchquerte den Panama-Kanal, wo seine Tochter im wahrsten Sinne des Wortes ausstieg.

Jacques Brel segelte mit seiner Lebensgefährtin weiter und ließ sich mit ihr auf Hiva Oa nieder, einer Insel im Pazifik, die zum Archipel der Marquesas gehört. Hier zog er mit ihr in ein schlichtes weißgetünchtes Haus mit Blick auf Strand und Meer. Selten hatten die beiden Gäste, doch sobald sich gute Freunde und Bekannte auf seine Insel verirrten, wartete ein Galadiner auf sie, mit allem, was dazu gehört.

Daneben kümmerte er sich um die Eingeborenen, ließ auf Hiva Oa das erste Kino bauen und einrichten, gab hin und wieder mit seiner Gitarre kleine Privatkonzerte für sie und sorgte mit seinem kleinen einmotorigen Flugzeug persönlich dafür, dass die Bewohner der Insel mit dem versorgt waren, was sie zum Leben brauchten, und dass ihre Verbindung zur Welt und zur Zivilisation erhalten blieb.

Und das genügte Jacques Brel und seiner Lebensgefährtin; sie waren auf Hiva Oa glücklich. Ruhm, Ansehen, Hektik und Trubel brauchten, suchten und wollten sie nicht; was sie wollten und hatten, war ihr Leben als Insulaner unter Insulanern.

Doch dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, so dass er nach Paris zurück musste, um sich behandeln zu lassen.

Als er nach Orly zurückkehrte, hielt er sich sich in einer Toilette auf dem Flughafen versteckt, während seine Lebensgefährtin sich bemühte, die zudringliche Meute der Paparazzi, die ihm auflauerten, von ihm fernzuhalten und zu verscheuchen. Nach zwei Stunden hatten sie endlich genug und ließen von ihm ab. Doch in dieser Zeitspanne zog er sich auf der kalten, zugigen Toilette eine Lungenentzündung zu, die sein geschwächter Körper nicht mehr abzuwehren vermochte, so dass er schließlich an den Folgen seines Krebsleidens starb.

Gemäß seinem letzten Wunsch brachte man ihn zurück nach Hiva Oa, wo er neben dem Maler Paul Gauguin bestattet wurde. Bis heute kann man beide Gräber und ein kleines Jacques Brel-Museum besichtigen, das sein Leben auf der Insel in den Mittelpunkt rückt.

Und wer weiß? Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass seine Seele bis heute über Hiva Oa schwebt, frei und im Frieden mit sich, dem Himmel  und der See...



02.02.2024 - Mein Flandernland - Belgien im Spiegelbild
An Belgien habe ich nur wenige Erinnerungen, die dennoch über die Jahre hinweg immer wieder mal meinem Gedächtnis aufgetaucht sind. Auf unserer Klassenfahrt nach London, die von der Fremdsprachenschule organisiert wurde, an der ich von 1984 bis 1986 in Coburg meine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin absolviert habe, mussten wir einen Teil der Normandie und Belgien durchqueren, um nach Ostende zu unserer Fähre zu gelangen, die uns über den Ärmelkanal nach Dover bringen würde. Ich erinnere mich daran, dass sich auf einer Seite der Autobahn ein endloses Band von Wiesen, Äckern und Felden erstreckte und jenseits davon das graue, ebenso endlos anmutende Band des Ärmelkanals; eine Wassermasse, die mir auf unserer Fahrt ebenso pfannkuchenplatt und unbewegt wie das Land erschien. Auf der anderen Seite der Autobahn erhoben sich große stattliche Häuser mit geschweiften oder wabenartigen Giebeln und vorspringenden Erkern, die in klaren satten Farben getüncht waren und alles in allem den Eindruck von Wohlstand, wenn nicht gar Reichtum erweckten. Auch erinnere ich mich noch daran, dass in Belgien Restaurants, Bistros und Cafés nicht in den Häusern untergebracht sind, sondern meist davor, in einem von Säulen gestützten Pavillon oder Wintergarten aus Glas, der das stilvolle, blitzsaubere Interieur der Gaststube zeigt. Auf der Rückreise von London nach Coburg nahmen wir denselben Weg - sprich, von Dover nach Ostende -, und vor der endgültigen Heimfahrt legten wir noch eine dreistündige Pause in Brüssel ein, um in einem chinesischen Restaurant zu Abend zu essen. Daran erinnere ich mich auch noch, aber darüber hinaus sind von Brüssel in meinem Gedächtnis leider nur Straßen mit Kopfsteinpflaster hängengeblieben, die von gusseisernen Straßenlaternen erleuchtet sind, Häuser, die mit jeder Menge Glühbirnen verziert sind, und das vage Bild des Atomiums. Ein immaterielles Wahrzeichen von Belgien gibt es, das über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist und immer noch existiert: die Comicreihe "Tim und Struppi", in Belgien und Frankreich als "Tintin et Milou" bekannt. Wer erinnert sich an den furchtlosen, unermüdlichen Reporter Tim, der mit seinem weißen Terrier Struppi in ein exotisch-bizarres Abenteuer nach dem anderen gerät und aus allen Gefahren und Strapazen mit seinem stets gleichbleibenden Ausdruck freundlicher, naiv staunender Neugier hervorgeht? Oder an die vor Sprachgewalt überschäumenden Flüche und Kraftausdrücke des ewig betrunkenen Kapitäns Haddock (”Hunderttausend heulende Höllenhunde!”)? Oder die tollpatschigen eineiigen Detektiv-Zwillinge Schulze und Schultze (im Französischen Dupond et Dupont)? 1978 wurde diese Comicreihe eingestellt, doch bis heute sind fast alle "Tim und Struppi"-Bände als historische Dokumente des Fortschritts in Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert in gutsortierten Buch- und Zeitschriftenhandlungen erhältlich. Zu den spannendsten und eindrucksvollsten Geschichten, die ich gelesen habe, zählen "Tim in Tibet" und "Flug 714 nach Sydney". Was mein Ausflug in meine Erinnerungen an Belgien mit Jacques Brel zu tun hat? Nun ja, er stammte aus Brüssel, genau gesagt, aus dem gutsituierten Stadtteil Schaerbeek.


Mein Flandernland - Belgien im Spiegelbild


An Belgien habe ich nur wenige Erinnerungen, die dennoch über die Jahre hinweg immer wieder mal meinem Gedächtnis aufgetaucht sind. Auf unserer Klassenfahrt nach London, die von der Fremdsprachenschule organisiert wurde, an der ich von 1984 bis 1986 in Coburg meine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin absolviert habe, mussten wir einen Teil der Normandie und Belgien durchqueren, um nach Ostende zu unserer Fähre zu gelangen, die uns über den Ärmelkanal nach Dover bringen würde.

Ich erinnere mich daran, dass sich auf einer Seite der Autobahn ein endloses Band von Wiesen, Äckern und Felden erstreckte und jenseits davon das graue, ebenso endlos anmutende Band des Ärmelkanals; eine Wassermasse, die mir auf unserer Fahrt ebenso pfannkuchenplatt und unbewegt wie das Land erschien.

Auf der anderen Seite der Autobahn erhoben sich große stattliche Häuser mit geschweiften oder wabenartigen Giebeln und vorspringenden Erkern, die in klaren satten Farben getüncht waren und alles in allem den Eindruck von Wohlstand, wenn nicht gar Reichtum erweckten. Auch erinnere ich mich noch daran, dass in Belgien Restaurants, Bistros und Cafés nicht in den Häusern untergebracht sind, sondern meist davor, in einem von Säulen gestützten Pavillon oder Wintergarten aus Glas, der das stilvolle, blitzsaubere Interieur der Gaststube zeigt.

Auf der Rückreise von London nach Coburg nahmen wir denselben Weg - sprich, von Dover nach Ostende -, und vor der endgültigen Heimfahrt legten wir noch eine dreistündige Pause in Brüssel ein, um in einem chinesischen Restaurant zu Abend zu essen. Daran erinnere ich mich auch noch, aber darüber hinaus sind von Brüssel in meinem Gedächtnis leider nur Straßen mit Kopfsteinpflaster hängen geblieben, die von gusseisernen Straßenlaternen erleuchtet sind, Häuser, die mit jeder Menge Glühbirnen verziert sind, und das vage Bild des Atomiums.

Ein immaterielles Wahrzeichen von Belgien gibt es, das über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist und immer noch existiert: die Comicreihe Tim und Struppi, in Belgien und Frankreich als Tintin et Milou bekannt. Wer erinnert sich an den furchtlosen, unermüdlichen Reporter Tim, der mit seinem weißen Terrier Struppi in ein exotisch-bizarres Abenteuer nach dem anderen gerät und aus allen Gefahren und Strapazen mit seinem stets gleichbleibenden Ausdruck freundlicher, naiv staunender Neugier hervorgeht?

Oder an die vor Sprachgewalt überschäumenden Flüche und Kraftausdrücke des ewig betrunkenen Kapitäns Haddock (”Hunderttausend heulende Höllenhunde!”)? Oder die tollpatschigen eineiigen Detektiv-Zwillinge Schulze und Schultze (im Französischen Dupond et Dupont)?

1978 wurde diese Comicreihe eingestellt, doch bis heute sind fast alle Tim und Struppi-Bände als historische Dokumente des Fortschritts in Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert in gutsortierten Buch- und Zeitschriftenhandlungen erhältlich. Zu den spannendsten und eindrucksvollsten Geschichten, die ich gelesen habe, zählen Tim in Tibet und Flug 714 nach Sydney.

Was mein Ausflug in meine Erinnerungen an Belgien mit Jacques Brel zu tun hat? Nun ja, er stammte aus Brüssel, genau gesagt, aus dem gutsituierten Stadtteil Schaerbeek.

Eines Tages verließ er die Kartonnagenfabrik seines Vaters, die er übernehmen hätte sollen, und ging nach Paris, um zunächst in Gestalt und Kostüm eines Mexikaners mit der Gitarre von einer Kneipe zur anderen zu tingeln und für ein Bier und ein Brot mit Schinken und Käse zu singen (der gute alte Croque-Monsieur, mit dem sich Studenten und Berufsanfänger durch den Tag schlagen, die nicht viel Geld in der Tasche haben).

In den ersten Jahren seiner Laufbahn wurde Jacques Brel in Paris unsanft und regelmäßig auf die Tatsache gestoßen, dass manche Franzosen zu Belgiern dasselbe Verhältnis haben wie manche Deutsche zu Ostfriesen: Sie halten Belgier für behäbig und schwerfällig, für Leute, die nicht die hellste Kerze auf der Torte sind.

Wie dieses Vorurteil zu Stande gekommen ist, weiß ich nicht, da ich weder Belgier noch Ostfriesen persönlich kenne. Das Einzige, was mir an Walloniern, sprich, französisch-sprachigen Belgiern auffällt, ist, dass sie langsamer, gedämpfter und bedächtiger sprechen als Franzosen, in einem wiegenden, melodischen Singsang, der den Ohren eigentlich wohltut.

Wie auch immer, eines Tages packte Jacques Brel den Stier bei den Hörnern und gab seinem Publikum im Domino, Olympia oder Bobino das, was es wollte: das Klischee des behäbigen, spießigen, beschränkten Belgiers.

So bemüht er sich in Les Bonbons als schüchtern-verklemmter Jüngling um die Gunst einer Dame, indem er ihr die Bonbons anpreist, die er ihr zum Rendezvous als Geschenk überreichen will:

“Ich habe Ihnen Bonbons mitgebracht, weil Blumen doch so schnell verderben. Und Bonbons sind doch immer etwas Gutes, auch wenn Blumen mehr hermachen...”

Nicht gerade ein Debüt, mit dem man Punkte sammelt, oder? Und wie brav und artig er fortfährt:

“Ich hoffe, dass wir spazieren gehen können; dass Ihre Frau Mutter nichts dagegen sagt. Später um acht bringe ich Sie nach Hause zurück.”

Ist es das 20. oder eher das 19. Jahrhundert, das aus ihm spricht?

Oder er träumt in Madeleine davon, dass er mit seiner Angebeteten die Linie 33 nimmt, mit ihr ins Kino geht und hinterher mit ihr Pommes frites ist, weil sie das ja so gern hat... (Übrigens ist in Belgien und auch in den Niederlanden der Alltag undenkbar ohne Pommes frites in allen Variationen und Lebenslagen.) Nur, dass Madeleine nicht zum Rendezvous erscheint und er vergebens auf sie wartet. Doch dem armen Kerl genügt allein die Vorfreude auf den nächsten Termin, der Gedanke, dass Madeleine nächstes Mal vielleicht kommen wird...

Mit seinen Attacken gegen Klischees, Vorurteile und Standesdünkel, die in anderen Chansons noch viel schärfer und bissiger ausfielen, hat sich Jacques Brel unter seinen Landsleuten zu Lebzeiten Feinde gemacht, vor allem in dem gutsituierten, wohlhabenden Bürgertum, dem er selbst entstammte. So nimmt er in Les Flamandes die Fläminnen aufs Korn, die sich beim Tanzen früher offenbar schweigsam und lustlos zeigten; die nur tanzten, um sich bald zu verloben und zu heiraten, oder um später zu zeigen, dass es um ihre Familien bestens bestellt ist, weil ihr Lehrer und Pfarrer es ihnen so beigebracht hat. Aber Lebensfreude oder Genuss strahlen sie nicht aus.

In Mon Enfance erinnert sich Jacques Brel daran, wie seltsam und fremd ihm die Mitglieder seiner Familie und seines Haushalts erschienen, zu deren Stamm er dennoch gehörte; wie kalt, starr und beklemmend er die Atmosphäre in seiner Umgebung empfand.

Tatsache war, dass in seiner Familie Gegensätze aufeinandergeprallt sind, die in Belgien bis heute existieren: Da war sein Vater, nüchtern, schweigsam und bedächtig, der planende, wirtschaftende und kalkulierende Geschäftsmann und Firmeninhaber, und auf der anderen Seite seine Mutter, lustig, gesellig und geistig beweglich, der Musik, dem Theater und der Malerei ihr Leben lang zugetan. Auch begegneten sich in seinen Eltern die französischsprachigen Wallonen und die niederländisch sprechenden Flamen, die beiden großen Volksgruppen, die in Belgien seit jeher darum ringen, sich gegeneinander zu behaupten.

Ich kann mir das Unverständnis, die Unvereinbarkeit lebhaft vorstellen, die in dieser Familie geherrscht und für eine Atmosphäre der Bedrückung, Unzufriedenheit und Feindseligkeit gesorgt haben muss; so etwas kenne ich selbst zur Genüge. Als Kind in einem Kreuzfeuer konträrer Interessen und Mentalitäten aufzuwachsen, lässt einem kaum eine andere Wahl, als sich seinen Teil zu denken. Und als Kind begreift man nicht, woher sie stammt, diese Giftwolke, die auf dem Haus und ihren Bewohnern lastet und für Kälte, Starre und Düsternis sorgt.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, in einer dysfunktionalen Familie zu überleben: Entweder akzeptiert man, was man sieht, hört und erlebt und reiht sich darin ein, oder es geht einem ein Licht in Form eines Auswegs, einer Alternative auf, und man bricht auf ins Leben, in die Freiheit. Mit der Entscheidung für das Letztere, die Jacques Brel für sich getroffen hat, endet Mon Enfance.

Doch ebenso oft, wie er seinen Landsleuten auf unangenehme Weise den Spiegel vorhielt, hat er sein Land, vor allem die Küste und das Meer, voller Sehnsucht und Melancholie porträtiert.

So zum Beispiel, wenn er in Mon Pêre Disait die Wucht des Nordwindes spürbar macht, der die Flut bei Scheveningen donnern lässt; den Nordwind, der macht, dass sich die Erde um die Türme von Brügge dreht; der dafür gesorgt hat, dass die Erde zwischen Zeebrügge und England entzwei riss, so dass London nichts als ein Teil von Zeebrügge ist, der im Meer verloren ging...

Oder wenn er in Il Neige Sur Liège den Winter in Lüttich (Liège) beschreibt: Wenn der Fluss (die Maas) den Klang des Schnees mit sich trägt... Wenn alle Straßen und Plätze in Weiß getaucht sind und Freunde und Geliebte aus der Vergangenheit wie Schemen im Schneetreiben neben einem her gehen... Wenn man nicht mehr weiß, ob der Himmel auf Lüttich herabschneit oder ob Lüttich zum Himmel schneit...

Oder wenn er in Le Plat Pays von seinem flachen Land erzählt, in dem die einzigen Berge die Kirchtürme sind, die schwarz wie Schiffsmasten emporragen und an denen Teufel mit ihren Krallen den Himmel zerfetzen; dessen Himmel so niedrig ist, dass ein Kanal in ihm verloren ging und sich erhängt hat, und so traurig und grau, dass man ihm vergeben muss; sein Land, das sich der Kraft und Macht der Winde entgegenstemmt: “Hört ihr, wie’s dagegen hält?”

Eines Tages hoffe ich, dass ich das Belgien, das Jacques Brel in seinen Chansons beschrieben hat, kennenlernen und mich dort umsehen werde, zwischen den Türmen von Brügge und Gent...



02.02.2024 - Jacques Brel - Der ewig hungrige Wolf
Am Samstag vor einer Woche war ich im Werk7-Theater im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof und habe mir einen Konzertabend mit Chansons des unvergesslichen Jacques Brel angesehen. Bestritten und gestemmt wurde dieser Abend von zwei Damen - Milica Jovanovic und Ann Mandrella – und zwei Herren – Drew Sarich und Matthias Trattner –, die ihr Können bereits in vielen Musical-Produktionen auf deutschen Bühnen unter Beweis gestellt haben. Ich fand es lobenswert, dass noch heute Generationen von Sängerinnen und Sängern, Schauspielerinnen und Schauspielern die Chansons von Jacques Brel für sich entdecken und sie herüberbringen wollen; und am Quartett dieses Abends fand ich es noch lobenswerter, dass die vier viele Chansons ins Deutsche oder Englische übersetzt haben, damit sie von Zuschauerinnen und Zuschauern verstanden werden, die der französischen Sprache nicht mächtig sind. Denn gerade bei Jacques Brel ist es wichtig, dass man den Inhalt versteht, um den es geht. Und das Sänger- und Darsteller-Quartett hat wirklich alles gegeben und durch die Bank beeindruckende Leistungen gezeigt. Doch für mich ergab sich an diesem Abend einmal mehr das Problem „Kopie vs. Original“; denn es ist alles andere als einfach, an die immer packende, häufig rührende und zuweilen gar ans Schmerzhafte grenzende Vortragskunst des echten Jacques Brel heranzukommen. Auch sind für mich viele seiner Chansons unauflöslich mit seiner tiefen, herben, brüchigen Stimme verbunden… Und so erscheint es mir nur als recht und billig, jetzt und hier noch einmal an den „Grand Jacques“ zu erinnern, in dem viele den Erben und Nachfolger von Edith Piaf sehen.


Jacques Brel - Der ewig hungrige Wolf
 

Am Samstag vor einer Woche war ich im Werk7-Theater im Werksviertel hinter dem Ostbahnhof und habe mir einen Konzertabend mit Chansons des unvergesslichen Jacques Brel angesehen. Bestritten und gestemmt wurde dieser Abend von zwei Damen - Milica Jovanovic und Ann Mandrella – und zwei Herren – Drew Sarich und Matthias Trattner –, die ihr Können bereits in vielen Musical-Produktionen auf deutschen Bühnen unter Beweis gestellt haben.

Ich fand es lobenswert, dass noch heute Generationen von Sängerinnen und Sängern, Schauspielerinnen und Schauspielern die Chansons von Jacques Brel für sich entdecken und sie herüberbringen wollen; und am Quartett dieses Abends fand ich es noch lobenswerter, dass die vier viele Chansons ins Deutsche oder Englisceh übersetzt haben, damit sie von Zuschauerinnen und Zuschauern verstanden werden, die der französischen Sprache nicht mächtig sind. Denn gerade bei Jacques Brel ist es wichtig, dass man den Inhalt versteht, um den es geht. Und das Sänger- und Darsteller-Quartett hat wirklich alles gegeben und durch die Bank beeindruckende Leistungen gezeigt.

Doch für mich ergab sich an diesem Abend einmal mehr das Problem „Kopie vs. Original“; denn es ist alles andere als einfach, an die immer packende, häufig rührende und zuweilen gar ans Schmerzhafte grenzende Vortragskunst des echten Jacques Brel heranzukommen. Auch sind für mich viele seiner Chansons unauflöslich mit seiner tiefen, herben, brüchigen Stimme verbunden… Und so erscheint es mir nur als recht und billig, jetzt und hier noch einmal an den „Grand Jacques“ zu erinnern, in dem viele den Erben und Nachfolger von Edith Piaf sehen.

Wie ihr war auch ihm kein langes Leben beschieden - er war neunundvierzig Jahre alt, als er 1978 in einer Pariser Klinik an Lungenkrebs starb -, und wie sie hat auch er mit derselben verzehrenden Intensität und Bedingungslosigkeit gelebt, die er bei seinen Konzerten auf der Bühne zeigte. Neben Edith Piaf, die seine Anfänge in Paris noch erlebte und sein Potential erkannte, gilt Jacques Brel bis heute als Maßstab und Inbegriff des französischen Chansons, und auch sein Wirken und Vermächtnis hallt lange und weit über sein kurzes Erdenleben hinaus.

Und das, obwohl er nicht aus Frankreich, sondern aus Belgien stammte, was ihm zu Beginn seiner Laufbahn jede Menge Spott einbrachte. Auf das zwiespältige Verhältnis, das er wiederum zu Belgien und seinen Landsleuten hatte, komme ich später gesondert ausführlich zu sprechen.

Kennengelernt habe ich Jacques Brel in den ersten Jahren meines Berufslebens in München, Anfang der 1990er Jahre, als der neu gegründete deutsch-französische Kultursender Arte in einer neunzigminütigen Hommage an sein Schaffen und Wirken erinnerte.In Ausschnitten aus seinen Live-Konzerten im Olympia und Domino sah ich erstmals jene knochige, ja ausgezehrte Gestalt mit ihren langen, eckig zuckenden Armen und Beinen, jenes hagere, grobknochige Gesicht mit den weißen unregelmäßigen Zähnen im riesigen Mund, so dass er für mich einem hungrigen Wolf in Menschengestalt glich. Vor allem aber war Jacques Brel vom Anfang seines Auftritts bis zum Ende ein Bild fleischgewordener, nicht zu bändigender Vitalität und Leidenschaft.

Ein Chanson gibt es, dessen berstende, überschäumende Vitalität mich immer wieder aufs Neue packt und das für mich zum Frühling gehört wie das Ausschlagen der Bäume: La Valse A Mille Temps. Es ist einer der in Frankreich beliebten und bekannten Valses Musettes und für mich Inbegriff der französischen Sprache.

Denn gerade im Valse A Mille Temps findet man das typische rasche, flache Dahineilen der Stimme und das harte, metallische Stakkato der Silben, die sich in atemberaubendem Tempo aneinanderreihen:

“Une valse à quatre temps,

c’est beaucoup moins dansant,

c’est beaucoup moins dansant

mais aussi plus charmant

qu’une valse à trois temps,

une valse à quatre temps.

 

Une valse à vingt temps,

c’est beaucoup plus trop longue...”


Das liest sich nicht gerade geistreich und auch nicht unbedingt aufregend, aber die geneigte Leserin oder der geneigte Leser versuche doch einmal, das Gelesene ohne Punkt, Komma oder sonstige Abstände und Zäsuren auszusprechen. Wer es schafft, ohne dass sich ihr oder ihm die Zunge spätestens in der vierten Zeile heillos verhakt und verknotet, kann sich rühmen, wirklich Französisch sprechen zu können!

Von der Geschwindigkeit, mit der Jacques Brel seine Silbensalven herunterrattert, muss ich heute noch um zwei Gänge herunterschalten, wenn ich halbwegs durchkommen will.

Noch schlimmer ist in dieser Hinsicht sein anderer Valse Musette, Vésoul. Er handelt von einem jungen Ehepaar, bei dem die Ehefrau von Rastlosigkeit getrieben von einem Ort zum anderen reist, es aber nirgendwo lange aushält und nie zufrieden ist:

 “T’as voulu voir, Vésoul, on a vu Vésoul.

T’as voulu voir Vierzon, on a vu Vierzon.

T’as voulu voir Honfleurs, on a vu Honfleurs,

T’as voulu voir Hambourg, on a vu Hambourg...”

Bei diesem Endlosband rattern die Silben und Worte noch schneller dahin, dass es einem im wahrsten Sinn des Wortes den Atem verschlägt.

Dem Ehemann auch, und schließlich reißt ihm der Geduldsfaden:
           
“Aber ich sag’s dir:

Ich werde nicht weiter gehen.

Und ich warne dich vor:

Ich gehe nicht nach Paris!

Vor allem anderen graut mir

vor all den Klängen

des Valse Musette und des Akkordeons....”

Zugleich scheinen Melodie und Rhythmus in Vésoul und La Valse A Mille Temps zu schäumen, ja förmlich zu bersten; beide Chansons sind ein atemberaubender Taumel der Sinne und der puren Lust am Leben.

Denselben Taumel und dieselbe Lebenslust verströmt Amsterdam, das bekannteste Chanson von Jacques Brel, an dem sich Generationen von Sängerinnen und Sängern versucht haben und der Wucht seiner Stimme und der Ausdruckskraft seines Vortrags dennoch nie ganz das Wasser reichen können.

Es handelt von Matrosen, deren Schiff im Hafen von Amsterdam anlegt und sie zum Landgang freilässt.

Nach monatelangem eintönigem Seetörn und harter, schwerer Arbeit endlich mal wieder an Land und in eine Kneipe gehen! Anstatt versalzenes Pökelfleisch und knochenhartes Kommissbrot wieder frisch gegrillter Fisch, der vor Fett trieft, und frisch gezapftes Bier vom Fass! Und erst die Frauen; endlich mal wieder weibliche Wesen nach monatelanger Ödnis und Not! Und so stürzen sich die Matrosen ins Futtern und Bechern, ins Tanzen und Singen, hinein ins pralle Leben...

Und Jacques Brel singt Amsterdam mit einer Intensität, die ihm buchstäblich aus jeder Pore strömt. Eine Intensität, die einen packt und mitreißt, während sie einen in ihren intensivsten Momenten im gleichen Atemzug erschreckt, ja geradezu erschlägt. Er gehört zu denen, die alles, was sie in ihrem Leben tun, mit vollem Einsatz und zu hundert Prozent tun, die auf der Bühne wie im realen Leben alles geben und fordern. Bei ihm genügen wenige Minuten, um zu wissen und zu spüren: Da oben spielt und scherzt einer nicht; er meint und lebt das, was er von sich gibt.

Es ist ihm ein Herzensanliegen, und er fordert von seinem Publikum, dass es innehält und dem, was er zu sagen und zu singen hat, genau zuhört.

Und er selbst ist in jede Gestalt gekrochen, die er porträtierte, und hat ihre Identität angenommen, so dass manche seiner Chansons Ein-Mann-Theaterstücke en miniature waren.



16.01.2024 - Eine zeitlose Musik ohne Alter
Natürlich: Was wäre die West Side Story mit ihrer actiongeladenen Handlung, mit ihrem Werben für Versöhnung, Frieden und Hoffnung in einer besseren Welt, und mit den jungen Menschen, die all dies über die Bühne bringen, ohne die Musik, die all dies trägt? Musik, die sich in keine Schublade stecken lässt und sich ständig widerspricht. Da ist zum Teil extrem harter, dissonanter Jazz, der sich anfühlt, als würde man volle Kanne in eine Styroporplatte beißen, unversehens gefolgt von schwerelos-anmutigem Tanz. Da sind vorwärtsdrängende, brodelnde, aufpeitschende lateinamerikanische Rhythmen, während die Arien und Duette, die Tony und Maria auf den Leib geschrieben wurden, haarscharf an der klassischen Oper vorbei schrammen. Auf der anderen Seite hat man die unsterblichen Evergreens wie "Tonight", "Somewhere" und natürlich "Maria", im Ohr mit jenen Melodien, die auch in hundert Jahren ihren Glanz und ihre Leuchtkraft nicht verlieren werden. Ob man sich gegen das Dissonante wehrt oder in die rasante Achterbahnfahrt namens "America" gesetzt wird - womöglich die wildeste und frechste Hymne der Vereinigten Staaten -; ob man mit "Tonight" in eine festliche Nacht hinein segelt oder der Klangfülle und Strahlkraft von "Maria", "I Have a Love" oder "Somewhere" widerstandslos erliegt, mit der Musik ergeht es einem wie mit der Handlung: Hat sie einen einmal gepackt, lässt sie einen noch in hundert Jahren nicht kalt, so wie mich wohl auch der niemals kalt lassen wird, von dem sie stammt. Seltsam eigentlich, dass er sie lange Zeit nicht selbst mit Musikern und Sängern einstudiert und dirigiert hat, sehr spät, erst 1987 als konzertante Aufnahme. Gewiss hatte er 1957, als die Uraufführung am Broadway stattfand, eine ganze Menge anderer Dinge zu tun. Doch hätte damals Leonard Bernstein sein eigenes Musical dirigiert, wäre zweifellos doppelt und dreifach Feuer unter dem Dach gewesen! Vermutlich wäre seine eigene Musik vom ersten Abschlag an mit ihm durchgegangen, so dass er die gesamte Handlung auf seinem Dirigentenpult mimisch und pantomimisch verkörpert hätte, so wie er es mit dem Inhalt einer jeden Symphonie tat... Und damit komme ich zu ihm, der mich jetzt, nach langen Jahren, auch wieder eingeholt hat, in Gestalt des Films "The Maestro", den ich mir nach einigem Widerstreben im ARRI in der Türkenstraße doch angesehen habe.


Eine zeitlose Musik ohne Alter

 

Natürlich: Was wäre die West Side Story mit ihrer actiongeladenen Handlung, mit ihrem Werben für Versöhnung, Frieden und Hoffnung in einer besseren Welt, und mit den jungen Menschen, die all dies über die Bühne bringen, ohne die Musik, die all dies trägt?

Musik, die sich in keine Schublade stecken lässt und sich ständig widerspricht. Da ist zum Teil extrem harter, dissonanter Jazz, der sich anfühlt, als würde man volle Kanne in eine Styroporplatte beißen, unversehens gefolgt von schwerelos-anmutigem Tanz. Da sind vorwärtsdrängende, brodelnde, aufpeitschende lateinamerikanische Rhythmen, während die Arien und Duette, die Tony und Maria auf den Leib geschrieben wurden, haarscharf an der klassischen Oper vorbei schrammen.

Auf der anderen Seite hat man die unsterblichen Evergreens wie "Tonight", "Somewhere" und natürlich "Maria", im Ohr mit jenen Melodien, die auch in hundert Jahren ihren Glanz und ihre Leuchtkraft nicht verlieren werden.

Ich selbst kenne noch heute die Melodien aller Songs und die Leitmotive der Tanzchoreographien, aber mehr als alle anderen Lieder liebte und liebe ich Maria. Nie würde ich dieses Lied singen, ich will es von einem Mann hören und habe es inzwischen schon viele Male gehört.

Doch noch heute kann ich schwören: Niemand singt Maria besser als Karel Gott! Wer sich einmal seine Aufnahme aus 1968 anhört, in der er dieses Lied auf Tschechisch singt – und man sollte ihn in seiner Heimatsprache hören, auf Deutsch oder Englisch klingt das Lied bei ihm härter, als es von ihm beabsichtigt ist -, der weiß, warum Leonard Bernstein ihm erlaubt hat, es auf seinen Konzerten zu singen.

Dagegen sang ich Tonight und Somewhere immer wieder vor mich hin. Als ich nach einer feuchtfröh-lichen Weihnachtsfeier einmal vier halbe Gläser Wein intus hatte, habe ich mit diesen Liedern einen Bahnsteig am Ostbahnhof in voller Lautstärke beglückt. Doch seltsamerweise stopfte mir kein einziger Passant den Mund, der auf dem Bahnsteig stand und zum Mithören gezwungen war, und es kam auch kein Polizist, der mir das Singen verbot und mich in eine Ausnüchterungszelle steckte...

Und wenn am Ende Tonys Leiche fortgetragen wird und alle Beteiligten nach und nach die Bühne verlassen, sorgt der von Grauen und Blut erfüllte Trauermarsch dafür, dass man die Bilder nicht vergisst, die man soeben gesehen hat...

Ob man sich gegen das Dissonante wehrt oder in die rasante Achterbahnfahrt namens "America" gesetzt wird - womöglich die wildeste und frechste Hymne der Vereinigten Staaten -; ob man mit "Tonight" in eine festliche Nacht hinein segelt oder der Klangfülle und Strahlkraft von "Maria", "I Have a Love" oder "Somewhere" widerstandslos erliegt, mit der Musik ergeht es einem wie mit der Handlung:

Hat sie einen einmal gepackt, lässt sie einen noch in hundert Jahren nicht kalt, so wie mich wohl auch der niemals kalt lassen wird, von dem sie stammt. Seltsam eigentlich, dass er sie lange Zeit nicht selbst mit Musikern und Sängern einstudiert und dirigiert hat, sehr spät, erst 1987 als konzertante Aufnahme.

Gewiss hatte er 1957, als die Uraufführung am Broadway stattfand, eine ganze Menge anderer Dinge zu tun. Doch hätte damals Leonard Bernstein sein eigenes Musical dirigiert, wäre zweifellos doppelt und dreifach Feuer unter dem Dach gewesen!

Vermutlich wäre seine eigene Musik vom ersten Abschlag an mit ihm durchgegangen, so dass er die gesamte Handlung auf seinem Dirigentenpult mimisch und pantomimisch verkörpert hätte, so wie er es mit dem Inhalt einer jeden Symphonie tat...

Und damit komme ich zu ihm, der mich jetzt, nach langen Jahren, auch wieder eingeholt hat, in Gestalt des Films "The Maestro", den ich mir nach einigem Widerstreben im ARRI in der Türkenstraße doch angesehen habe.

 

 

 



16.01.2024 - Im Namen der Jugend - West Side Story
Nein, diesmal wollte ich nicht hingehen. Als ich auf den Plätzen und Straßen unserer Stadt den vertrauten Schriftzug und die Graphik mit der Feuerleiter sah, an der eine männliche und eine weibliche Silhouette am Rand des Abgrunds tanzen, sagte ich mir zuerst, dass ich dieses Musical in- und auswendig kenne; wozu es sich also im Deutschen Theater wieder ansehen? Mein Nicht-Hingehen-Wollen kreiste noch um eine andere Sache, die ich mir zuerst auch nicht ansehen wollte und die vor Ankündigung der "West Side Story" stattfand. Es handelt sich um einen ganz bestimmten Film, gegen den ich mich sträubte, weil ich befürchtete, er könne nur daneben greifen und ins Seichte oder Geschmacklose ausarten. In diese Richtung ging ein guter Teil der Rezensionen. Doch derjenige, um den es in diesem Film geht, ließ mir keine Ruhe, bis ich am Neujahrstag dann doch in mein bewährtes ARRI-Kino in der Türkenstraße lief und mir den Film ansah, der zu meiner Erleichterung und Genugtuung weder das Thema verfehlte noch ins Gemeine und Schmutzige abdriftete. Vielmehr sorgte er dafür, dass jemand in meinen Erinnerungen erwacht ist, von dem ich in zwei weiteren Artikeln meiner neuen Reihe erzählen werde. Mit ihm kam auch das Leitmotiv des "Prologs" zurück, jene vier Töne, als ob jemand sagen würde: "Nehmt - euch - in acht!", dann das Fingerschnippen: Und klick, und klick, und klick, gefolgt von der Solo-Klarinette, und wieder: "Nehmt - euch - in acht!" Spätestens wenn die Streicher leicht und federnd hereingesegelt kommen, bin ich wieder in der Musik, in der Handlung, in den Szenen, in der Bronx auf der Isle of Manhattan wie damals vor nunmehr dreiundzwanzig Jahren, als ich in Erlangen studierte und mir mit zwei Studienkolleginnen im Schlosstheater erstmals dieses Musical ansah - und wir alle drei hin und weg waren. Es gibt Stücke, die weder altern noch totzukriegen sind. Was ist dran an diesem einen, das mittlerweile sechsundsechzig Jahre auf dem Buckel hat und ins Milieu der späten 1950er Jahre gehört - und das dennoch so jung und frisch bleibt und meinereine immer wieder herumkriegt?


Im Namen der Jugend - West Side Story
 

Nein, diesmal wollte ich nicht hingehen. Als ich auf den Plätzen und Straßen unserer Stadt den vertrauten Schriftzug und die Graphik mit der Feuerleiter sah, an der eine männliche und eine weibliche Silhouette am Rand des Abgrunds tanzen, sagte ich mir zuerst, dass ich dieses Musical in- und auswendig kenne; wozu es sich also im Deutschen Theater wieder ansehen?

Mein Nicht-Hingehen-Wollen kreiste noch um eine andere Sache, die ich mir zuerst auch nicht ansehen wollte und die vor Ankündigung der West Side Story stattfand. Es handelt sich um einen ganz bestimmten Film, gegen den ich mich sträubte, weil ich befürchtete, er könne nur daneben greifen und ins Seichte oder Geschmacklose ausarten. In diese Richtung ging ein guter Teil der Rezensionen. 

Doch derjenige, um den es in diesem Film geht, ließ mir keine Ruhe, bis ich am Neujahrstag dann doch in mein bewährtes ARRI-Kino in der Türkenstraße lief und mir den Film ansah, der zu meiner Erleichterung und Genugtuung weder das Thema verfehlte noch ins Gemeine und Schmutzige abdriftete.

Vielmehr sorgte er dafür, dass jemand in meinen Erinnerungen erwacht ist, von dem ich in zwei weiteren Artikeln meiner neuen Reihe erzählen werde. Mit ihm kam auch das Leitmotiv des "Prologs" zurück, jene vier Töne, als ob jemand sagen würde: "Nehmt - euch - in acht!", dann das Fingerschnippen: Und klick, und klick, und klick, gefolgt von der Solo-Klarinette, und wieder: "Nehmt - euch - in acht!"

Spätestens wenn die Streicher leicht und federnd hereingesegelt kommen, bin ich wieder in der Musik, in der Handlung, in den Szenen, in der Bronx auf der Isle of Manhattan wie damals vor nunmehr dreiundzwanzig Jahren, als ich in Erlangen studierte und mir mit zwei Studienkolleginnen im Schlosstheater erstmals dieses Musical ansah - und wir alle drei hin und weg waren.

Es gibt Stücke, die weder altern noch totzukriegen sind. Was ist dran an diesem einen, das mittlerweile sechsundsechzig Jahre auf dem Buckel hat und ins Milieu der späten 1950er Jahre gehört - und das dennoch so jung und frisch bleibt und meinereine immer wieder herumkriegt?

 

Worum es geht


Ein entscheidender Faktor, der den anhaltenden Erfolg dieses Musicals begünstigt hat, ist die spannende, packende Handlung an sich. Die Geschehnisse, die in West Side Story ihren Lauf nehmen, spielen sich innerhalb von drei Tagen und Nächten ab.

Sobald die Jets auf der Bühne herumhängen, herrscht Unruhe und Spannung. Sie knuffen und puffen sich, keilen gegeneinander aus, auch solange sie noch unter sich sind; es ist das uralte Verhalten wandelnder Testosteron- und Adrenalinbomben zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, die ihre überschießenden Kräfte abreagieren.

Als Chino als erster Shark in ihr Kreuzfeuer gerät, ist ihr Necken und Provozieren erst nur die Fortsetzung ihres Umgangs untereinander; zur Zielscheibe ihrer Aggressionen wird er nur, weil er anders aussieht, von woanders her kommt als jene, die "schon immer hier waren".

Erst als die Sharks mehr werden, sich nicht verscheuchen lassen, gibt es ernsthaft Zoff und Keilerei, weil sich die einen nicht von dem bisschen Straße vertreiben lassen wollen, das ihnen gehört, und die anderen auch nur leben und sich bewegen wollen.

Darum geht es im Kern, nicht mehr und nicht weniger; und dadurch ist das, was sich auf der Bühne abspielt, nie weit vom Erleben Jugendlicher und ihrem Umgang miteinander entfernt. Mit Ausnahme des Drugstore-Besitzers Doc, dem Polizeibeamten Sergeant Krupke und seinem Gehilfen und dem Sozialarbeiter Glad Hand sind es immer Jugendliche oder sehr junge Erwachsene, die in West Side Story die Handlung tragen, spielen und singen.

Und das Stück stellt sich nie über die Jugendlichen, hält Moralpredigten oder statuiert ein Exempel; es spricht die Sprache von Teenies und bleibt vielleicht genau dadurch frisch und jung. Zugleich aber - und dadurch "kriegt" es auch die Erwachsenen und schlägt sie in seinen Bann - hat es die Wucht und Tragik einer griechischen Tragödie.

Denn wer unter dem Platzhirsch- und Showdown-Gebaren beider Gangs zu leiden hat, sind genau die, welche Kampf und Keilerei verhindern wollen. Ihnen tut sich in der Gestalt des anderen ein Lichtstrahl auf, der in ihnen die Hoffnung auf eine Zukunft zu zweit in einer besseren und schöneren Welt weckt, und dass sie mit ihrer Liebe Wut, Hass und Aggression besiegen können.

Doch es ist, als würden Tony und Maria nur Öl ins Feuer gießen, genau dort, wo sie das Schlimmste verhindern wollen. In seinem Bemühen, die feindlichen Parteien voneinander zu trennen und dafür zu sorgen, dass es eben kein Blutvergießen gibt, greift Tony störend und irritierend in den Kampf ein, lenkt seinen Freund Riff ab und verschafft dadurch Bernardo die Oberhand; und genau dadurch rennt Riff voll in Bernardos Messer.

Dass umgekehrt Tony rot sieht, als Riff, sein bester und engster Freund seit früher Kindheit, vor seinen Augen stirbt, und auf Bernardo losgeht, ist verständlich.

Und als Maria später ihre Freundin Anita losschickt, um Tony zu warnen, dass Chino mit dem Revolver hinter ihm her ist, und sie es tatsächlich tut, wird sie von den Jets auf brutale Weise verhöhnt, umhergezerrt und vergewaltigt. Dass sie es diesem miesen Haufen und dem Typen heimzahlen will, der ihren geliebten Bernardo getötet hat, ist ebenso verständlich.

Wenn Anita zu der versammelten Mannschaft sagt: "Wenn einer von euch auf der Straße läge und verblutet, würde ich auf ihn spucken...Sagt eurem feinen Freund Tony, dass Chino herausgefunden hat, was zwischen ihm und Maria läuft, und dass er sie getötet hat";

wenn Tony rasend vor Schmerz und Verzweiflung durch die Straßen rennt und brüllt: "Chino! Komm her und töte auch mich! Verdammt nochmal, wo steckst du?! Komm raus und töte auch mich!";

wenn er Maria unerwartet an der Bushaltestelle stehen sieht, an der sie sich verabredet hatten, um zu fliehen, und Chino Tony von hinten erschießt, als er Maria entgegenläuft;

und wenn Maria hinterher mit dem Revolver vor der versammelten Mannschaft steht und sagt: "Wieviele von euch kann ich töten, bis mir noch eine Kugel für mich selbst bleibt?";

dann ist das die Sprache der rasenden, ohnmächtigen Wut und Verzweiflung von Menschen, denen man ohne Gnade und Erbarmen das Liebste und Beste genommen hat, das es für sie gab.

Das sind Szenen, die einen ganz einfach nicht kalt lassen, so lange man lebt. Als Jugendliche oder junge Erwachsene - uns dreien ging es damals in unserer Studentenzeit zumindest so - hängt man mit dem davonschwimmenden Taschentuch vor Augen im Theatersessel; und auch als reife Erwachsene hält man in diesen Augenblicken immer noch den Atem an und denkt: "Musste das jetzt sein?!" Und man gibt sich selbst die Antwort: "N E I N !"

Und in diesem "N E I N !" liegt das zeitlos gültige Anliegen derer, welche die West Side Story seinerzeit erschaffen haben:

"Nur wenn sich die Menschheit zur Versöhnung und zum Frieden anstatt zum Krieg aller gegen alle entschließt, hat sie eine Chance auf Fortbestand. Nur wenn man sich der Liebe anstatt dem Hass zuwendet, lohnt sich das Leben und die Zukunft."