Elvis von Baz Luhrmann im Arri-Kino in der Türkenstraße
Ein Kino gibt es in München, das bereits mehrfach totgesagt wurde, aber dem Zahn und den Wirren der Zeit nach wie vor unbeirrt und tapfer Stand hält - das Arri-Kino in der Türkenstraße, die altehrwürdige Mutter aller Filmschaffenden in München - warum, dazu komme ich gleich.
In diesem Zusammenhang gebe ich zu, dass für mich lange Zeit die Türkenstraße und damit auch das Arri etwas weit weg vom Schuss war, um ins Kino zu gehen; hierfür waren die heute nicht mehr existierenden Karlstor-Kinos, das City samt Atelier in der Sonnenstraße, der Gloria- und schließlich der Mathäser-Filmpalast am Stachus für mich ganz einfach näher gelegen.
Auch muss ich einmal mehr gestehen, dass die Türkenstraße und die umliegende Gegend für mich jahrzehntelang genauso ein blinder Fleck war wie die Welt östlich vom Ostbahnhof. Denn die Ludwigstraße wie auch die Adalbert- und Akademiestraße, die von ihr abzweigen und zur Türkenstraße führen, gehören seit jeher zum Münchner Uni-, Studenten- und Künstlerviertel, und ich kam als junge Berufsanfängerin und Vollzeit-Berufstätige nach München, nicht als Studentin an der LMU, TU oder einer der an die beiden großen Münchner Universitäten angeschlossenen Akademien, so dass ich es mich jahre- und jahrzehntelang schlicht und einfach nicht in diese Gegend verschlug.
Dabei gehört gerade das Karrée Ludwigstraße, Adalbert- und Türkenstraße - um genau zu sein, auch die angrenzende Schelling- und Barerstraße - zum alten, ursprünglichen Schwabing, lange vor der Leopoldstraße, der Münchner Freiheit und den Seitenstraßen, die davon abzweigen- Und lange bevor diese Gegend durch die Studenten-Unruhen der 1960er Jahre von sich reden machte, meinte man die von mir grob umrissende Gegend, wenn man von dem Viertel sprach, in dem die gerne als verrückt bezeichneten Künstler zu Hause sind, so dass bereits Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts das alte Herz von Schwabing von den eher wertkonservativen Münchnern den Beinamen "Wahnmoching" verliehen bekam.
Und es war im Jahr 1917, als die beiden Erfinder und Pioniere August Arnold und Robert Richter gemeinsam mit ihrem Chefingenieur Erich Kästner - nein, er ist mit dem berühmten Schriftsteller weder identisch noch verwandt - die erste Spiegelreflexkamera konstruierten, auf der alle Nachfolger-Versionen aufbauten. Im Grunde war es dieses Unternehmer-Trio, das seinerzeit die Bilder auf die Leinwand und zum Laufen gebracht hat; denn bis heute sind alle Regisseure und Kameraleute dieser Welt auf diesen großen schwarzen Kasten mit dem Objektiv im Vorderteil angewiesen, ohne den sich nun einmal ein Film nicht drehen lässt. Und bis heute, selbst noch im digitalen Zeitalter, schwören Regisseure und Kameraleute weltweit auf die Zuverlässigkeit und Präzision der Arriflex-Kameras und ihrer Versionen.
Bis 1945 hieß das Kino in der Türkenstraße, das August Arnold und Robert Richter gründeten, noch Capitol; doch es fiel wie so vieles in München den Bombenangriffen der Alliierten zum Opfer. Erst in der Nachkriegszeit nahm das Arri die Gestalt an, unter der wir es bis auf den heutigen Tag kennen: mit der schlichten weißgetünchten Fassade, dem etwas düsteren kleinen Treppenaufgang, dem Foyer mit seinem vielen Säulen, Winkeln und Nischen, der großen eleganten Freitreppe ins Obergeschoss und der großzügig bemessenen Theke mit der Ticket-, Getränke- und Popcorn-Ausgabe.
Seit jeher war das Arri berühmt für sein weitgefächertes Spektrum.
Da war auf der einen Seite die Serie der Edgar-Wallace-Krimis, erst in Schwarz-Weiß, später auch in Farbe, von denen Der Hexer, Neues vom Hexer, Das indische Tuch etc. bis heute Kultstatus genießen und nach wie vor gelegentlich im Fernsehen gezeigt werden, und die der Westernfilme mit wenig Handlung, aber viel Schießerei und galoppierenden Pferden, die damals das Publikum in Scharen anlockten und Geld in die Kinokasse brachten.
Auf der anderen Seite meldete sich zur gleichen Zeit eine Generation engagierter, aufstrebender Filmemacher zu Wort, für die ein Film dazu da war, eine Aussage zu machen, aufzurütteln, zum Nachdenken und zu Diskussionen anzuregen; jene Schar junger Regisseure, die ebenso nassforsch wie provokant verkündeten: "Opas Kino ist tot!", wobei die Filme von Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und Edgar Reitz bis heute ihrem Anspruch gerecht werden und in der Tat zu Legenden geworden sind...
Und so erschien es mir angemessen, mir im legendären Arri-Kino den neuesten Film über eine der größten Legenden unserer Zeit anzusehen: Elvis von dem australischen Regisseur Baz Luhrmann, der mit Filmen wie Moulin Rouge und Australia bereits zu Lebzeiten zur Legende wurde, ebenso wie der King des RocknRoll, den er porträtiert hat.
Ohne Zweifel war es ganz einfach die Show, wenn Elvis Presley, begleitet von der eigens für ihn komponierten Fanfare der Bläsergruppe, in seinem üppig mit Strass und Rheinkieseln besetzten Satintrikot und -umhang die von Tausenden und Abertausenden Glühbirnen erleuchtete Showbühne im International Hotel in Las Vegas betrat, seinen Blick über das Publikum schweifen ließ, den ersten wuchtigen Akkord auf seiner Gitarre anschlug und mit zuckender Hüfte seine tiefe, kraftvolle, voluminöse Stimme in den Raum schickte...
Nur, dass genau dieser Ort für ihn in Wahrheit der Anfang vom Ende war, was er aber erst begriff, als es längst zu spät war...
Hm. Ich kann mich erinnern, dass ich einen der letzten Live-Auftritte des King als neunjähriges Kind im Fernsehen mitbekam; nur, dass zu dieser Zeit sein Gesicht und sein ganzer Körper wegen seines jahre- und jahrzehntelangen Medikamenten-Missbrauchs bereits aufgebläht und aufgedunsen war.
Er bewegte sich schwerfällig und mühsam, längst nicht mehr so, wie man es von ihm in Erinnerung hatte; ganz eindeutig war er in einer schlechten Verfassung. Doch seine Stimme hielt durch, und nach wie vor musste er nur eine einzige musikalische Phrase singen, um unter Tausenden erkannt zu werden...
Nur wenige Wochen später hieß es, er sei tot, in seinem Haus in Memphis/Tennessee mit 42 Jahren an plötzlichem Herzstillstand gestorben.. Was Elvis Aaron Presley für Amerika und die Welt bedeutet hat, verstand ich damals als neunjähriges Mädchen noch nicht; und doch meinte ich zu spüren, dass die Welt ein paar Augenblicke lang erschreckt und ungläubig den Atem anhielt.
Die Generation meiner Eltern - ich rede hier von jener, die in Westdeutschland lebte - lernte Elvis fast nur als den braven G.I. kennen, der 1961 in einer U.S.-Kaserne seinen Wehrdienst ableistete und hier, in Deutschland, auch seine künftige Frau Priscilla Beaulieu kennenlernte. Seine Konzert-Auftritte in den USA wurden im Nachkriegs-Deutschland nicht gezeigt, nur einige seiner Songs waren hier und da im Radio oder als Single-Schallplatte zu hören.
Doch man muss Elvis Presley in seinen Anfangsjahren live gesehen und erlebt haben, um zu begreifen, welch eine immense Wirkung seine Stimme, sein Auftreten und seine Erscheinung vor allem auf das weibliche Publikum hatte.
Als ich jung war, hat unsere Generation mit dem Begriff Amerika ein freies, liberales, zum Teil gar grelles und wildes Land assoziiert; aber im Mittleren Westen, in New Mexico, Texas und den Südstaaten waren die Menschen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in ein strenges Sitten- und Wertekorsett eingezwängt, das von weißen Amerikanern angelsächsischer Abstammung diktiert wurde und in diesen Regionen der USA zu einem großen Teil noch heute diktiert wird.
Doch gerade in den wertkonservativen, rigiden Südstaaten entstanden in den Ghettos, die den Schwarzen zugewiesen waren, Ansätze zur Befreiung aus diesem strengen Korsett, zum einen in den Bars, Kneipen und Hotels, in denen Rhythm n Blues gespielt wurde, zum anderen in den Gospel- und Spiritual-Gottesdiensten fahrender Pastoren; und in beiden Lagern war die Musik elementar, heiß und wild, ja ekstatisch.
Die Beale Street in Memphis/Tennessee gilt bis heute als die Wiege des Blues, und genau hier traten die Legenden ihrer Zeit auf: B.B. King mit seiner Gitarre Lucille, auf dessen Konto Kracher wie Thats All Right, Mama, Hound Dog, Jailhouse Rock oder Tutti Frutti gehen; Odetta, die sowohl im Gospel als auch im Blues zu Hause war, außerdem eine der ersten und größten Protestsängerinnen ihrer Zeit; Little Richard, Fats Domino und viele mehr.
Der kleine Elvis Aaron Presley, dessen Familie auf Grund der Gefängnis-Vergangenheit seines Vaters als arme Weiße im Ghetto der Schwarzen lebte, sog diese Musik von Kindesbeinen an begierig in sich auf; doch ebenso stark zog es ihn in die Zelte, in denen die fahrenden Erweckungs-Prediger ihre Gottesdienste abhielten.
Für ihn war es kein großer Unterschied, ob er ein Konzert von B.B. King, Odetta oder Little Richard hörte oder ob er sich in einen Gospel- und Spiritual-Gottesdienst schlich; wohin er auch ging, die Musik packte ihn, wühlte ihn bis ins Tiefste auf und trug ihn meilenweit über sich selbst hinaus.
Als er sich damals in eines der Erweckungs-Zelte schlich und die mitreißende, ekstatische Dynamik eines Gospel- und Spiritual-Gottesdienstes live mitbekam, war es kein Geringerer als der junge Dr. Martin Luther King, der dafür sorgte, dass der weiße Junge im Gottesdienst bleiben durfte; denn aus seiner Sicht war dieser Kleine genauso vom Heiligen Geist ergriffen und mitgerissen wie alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Gottesdienst.
Ja, der kleine Elvis bekam sogar ein Abzeichen in Gestalt eines Blitzes, um zu verdeutlichen, dass der Heilige Geist von ihm Besitz ergriffen und ihn auserwählt hatte; und keine Geringere als Mahalia Jackson, die er damals auch live zu sehen und zu hören bekam, ermunterte ihn, dem Weg zu folgen, den er in seinem Herzen erkannt hatte und spürte; genauso, wie sie die afro-amerikanischen Führer der Bürgerrechtsbewegung in ihrem Weg und ihrem Anliegen ermutigte und bestärkte.
Und seit jeher war es der große Traum, ja die Vision des kleinen Elvis Aaron Presley, eines Tages ein Superheld wie Captain Marvel zu werden und zum Fels der Ewigkeit zu fliegen, wo ihm unbegrenzt und für alle Zeiten seine magischen Kräfte neu zufließen würden...
nd so kam es, dass er sich, sobald er seine Gitarre umhängte und an das Mikrophon trat, jedes Mal selbst mit ekstatischer Energie und Elektrizität auflud und sie frei in den Raum hinaus strömen ließ. Ihn am Mikrophon zu hören, seine zuckenden, wippenden Hüften zu sehen, seine immense virile Energie zu spüren, muss für die junge Generation, die in einer verkrusteten, in sich erstarrten Gesellschaft aufwuchs, jedes Mal ein ekstatischer Akt der Befreiung gewesen sein; das zeigen die Scharen schreiender, kreischender und zugleich strahlender Frauen im Publikum.
In dieser Hinsicht blieb Elvis sich ein Leben lang treu und ließ sich nicht verbiegen, auch nicht von seinem ebenso zwielichtigen wie einflussreichen Mäzen Colonel Parker: Was er sang und vor allem, wie er es sang, kam von tief drinnen, war unverfälscht, echt, durch und durch authentisch.
Und hinter seinen überlebensgroßen, glamourösen Auftritten waren die Inhalte mancher Songs tiefgründiger und ernster, als man denkt, wenn man sie beim ersten Mal nur oberflächlich hört. Die Texte von Heartbreak Hotel, In Troubled Days oder In The Ghetto sprechen von Not, Leid und Verlorenheit; und die Inhalte von Suspicious Minds und Its All Over haben für Generationen unglücklich Liebender bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren. Songs wie diese sind alles andere als belangloses, unverfängliches Schlager-Tralala.
Das hätten Colonel Parker und seine Hintermänner gerne von ihm gehabt, genau wie die unerträglich seichten und oberflächlichen Filme, die er nach seiner Rückkehr aus dem Wehrdienst drehte, um noch ein paar Dollar mehr aus ihm herauszukitzeln; aber diese Songs, und dass er sie bei seinen Auftritten sang, ließ sich Elvis von niemandem nehmen...
Bis Col. Parker ihn mit einem Knebelvertrag an das International Hotel in Las Vegas kettete und aus ihm eine Kunstfigur, ein Abbild seiner Selbst machte. Als Elvis nach Jahren endlich begriff, dass er für Parker und seine Hintermänner eine ertragreiche Melkkuh war und sonst nichts, und drohte, den Vertrag mit dem Hotel platzen zu lassen und auszusteigen, rechnete ihm der Colonel jeden Dollar vor, der seit 1955 für die Ausstattung und Organisation seiner Tourneen und Auftritte angefallen war; und Elvis begriff, dass es für ihn aus diesem Spiel kein Entrinnen mehr gab.
Besonders perfide erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass seine Geschwister und Cousins, ja, sein eigener Vater, der als Geschäftsführer des Familienunternehmens Presley das Vermögen seines Sohnes gewissenhaft verwalten hätte sollen, von seiner Arbeit - sprich, von den Einnahmen, die seine Konzerte brachten - jahre- und jahrzehntelang in Saus und Braus gelebt und das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinausgeworfen haben.....
Meiner Ansicht nach begann erst mit der Erkenntnis, dass er unentrinnbar in der Falle saß, der Absturz von Elvis in die Tabletten- und Alkoholsucht.
In den Jahren, die er als Hauptattraktion des International Hotel zubrachte, ging es Colonel Parker nur darum, ihn als Gelddruck-Maschine am Laufen und Funktionieren zu erhalten, was sich deutlich zeigt, als Elvis am Vormittag bei den Proben für den Abend im Gang hinter der Bühne kollabiert und Col. Parker - anstatt ihn sofort ins nächste Krankenhaus bringen zu lassen - darauf besteht, das ihn sein Leibarzt mit dem entsprechenden Medikamentencocktail auf der Stelle fit spritzt.
Seine Frau Priscilla, die er sein Leben lang aufrichtig geliebt hat, redete ihm eindringlich ins Gewissen, beschwor ihn beim Leben seiner kleinen Tochter, seine Pillen- und Flaschenbatterie aufzugeben, verschaffte ihm einen Platz in einer Entzugsklinik - vergebens.
Aus der Maschinerie, in die er eingestiegen war, kam Elvis weder aus eigenem Willen noch aus eigener Kraft heraus, bis ihm sein Herz eines Morgens im Alter von nur zweiundvierzig Jahren den Dienst versagte.
Übrigens zeigte sich bald nach seinem Tod, dass Colonel Parker ohne seine wandelnde Gelddruck-Maschine nichts Eigenes und Eigenständiges mehr auf die Beine zu stellen vermochte; und bald darauf nahmen die U.S.-Steuerbehörden Ermittlungen auf und fanden rasch heraus, dass er Elvis ein Leben lang betrogen und ausgebeutet hatte.
Doch während Colonel Parker heute nur noch eine Randnotiz der Geschichte ist, lebt der Mythos von Elvis und sein Einfluss auf Generationen von Rock- und Popmusikern nach wie vor ungebrochen weiter.