Michael Jackson –Zwei Seiten einer Medaille
Von Juni 2009 bis Februar 2020 konnte man rund um das Orlando di Lasso-Denkmal, das am Promenadeplatz dem Bayerischen Hof direkt gegenüber steht, ein Phänomen beobachten, das für eher wertkonservative Münchner etwas Befremdendes, ja Irritierendes hatte.
An der Säule waren Bilder und Porträtfotos des Sängers, Tänzers und Musikers Michael Jackson nebst Grußkarten und kleinen Denkschriften angebracht. Auf dem Sockel, der das Denkmal trägt, brannten stets ein paar Kerzen und Teelichter, und frische Blumen fehlten auch nie. Diese kleine improvisierte Gedenkstätte haben zwei weibliche Fans spontan eingerichtet und sich seither jeden Tag liebevoll um die Kerzen und Blumen und das Arrangement der Bilder, Fotos und Denkschriften gekümmert.
Doch seit dem Corona-Lockdown sind all diese kleinen Devotionalien sang- und klanglos verschwunden. Warum eigentlich? Fotos, Karten, Kerzen und Blumen haben nichts mit Aerosolen zu tun, die vom Atem potentieller Patienten ausgehen und das Risiko einer Ansteckung bergen!
Tatsache ist, dass neben der Musik von Queen, U2, Phil Collins und The Police bzw. Sting zwei Solo-Künstler den Sound der 1980er und 1990er Jahre ebenso nachhaltig und dauerhaft geprägt haben wie die Vorgenannten: Michael Jackson und Whitney Houston.
Und so erscheint es mir als angemessen, dass ich in meiner Rubrik Musik und Emotionen an beide erinnere und mit Michael Jackson beginne.
Schon in den 1970er Jahren war er auf den Konzertbühnen dieser Welt aktiv, allerdings noch nicht allein, sondern gemeinsam mit seinen vier älteren Brüdern. Von den Jackson Five habe ich als Kind nicht viel mitbekommen, denn zum einen traten sie nur selten in den deutschen Musiksendungen der damaligen Zeit auf, und zum anderen klang die Soul- und Funk-Musik, die sie machten, für meine zehn- bis zwölfjährigen Ohren noch zu schräg und zu wirr, als dass ich mit ihr etwas hätte anfangen können.
Steil nach oben ging Michael Jacksons Karriere, als er sich aus seinem Jackson Five-Brüderbund löste und, unterstützt von dem in der R’n’B-, Soul- und Funkszene einflussreich agierenden Musikproduzenten Quincy Jones, seine Ideen und Konzepte von Musik, Tanz, Arrangements, Licht-, Laser- und Spezialeffekten auf die Welt losließ.
Der erste Song, der uns in Deutschland aufhorchen ließ, war Billie Jean, denn er brachte einen Sound mit, der für unsere Ohren damals völlig neu war.
Schon in Billie Jean ist alles enthalten, was die Musik von Michael Jackson ausmacht: ein treibender, pumpender und dabei einzigartiger, unverwechselbarer Rhythmus, der selbst das letzte Landei in das flirrende, mondäne New Yorker Nachtleben versetzt.
Und die ebenso einzigartige, unverwechselbare Art, wie Michael Jackson sang. Mal hat er Wörter und Sätze gnadenlos zerhackt und zerpflückt, mal sie bis zur Unverständlichkeit zusammengepresst; und dazu kam sein ständiges Fiepen, Glucksen, Kieksen und Keuchen, während er den Text und die Melodie sang.
Kaum ein anderer Sänger bekommt solche Töne heraus und zieht diese Klangcollage konsequent durch den kompletten Song durch! Ich zumindest nicht. Das einzige, was ich hinbekomme - und auch nur, wenn ich im Rhythmus mitgehe -, ist sein „Au!“, das in Billie Jean immer wieder auftaucht.
Doch mein Lieblingsong von Michael Jackson ist Beat It. Vorher gab es ein ehernes Musikgesetz, nach dem Rock und Funk zwei Welten sind, die nicht zusammen gehören; aber Beat It bringt genau diese zwei Welten zusammen.
Die wuchtigen, metallischen Glockenschläge, mit denen der Song beginnt, können es locker mit den Hell’s Bells von AC/DC aufnehmen; doch der Rhythmus, der dann einsetzt, stammt eindeutig aus Funkytown. Und wenige Takte später kracht das unverwechselbare, beinharte Riff der E-Gitarre von Slash herein.
Und dann erzählt die Stimme von Michael Jackson – nur in Bad klingt sie noch schärfer, härter und aggressiver als hier, und anders als in vielen seiner Songs kiekst und gluckst er hier nur selten - vom Kampf wandelnder Adrenalin- und Testosteron-Bomben in den Straßenschluchten der Bronx, der darauf beruht, dass keiner kneifen, keiner weichen, keiner abhauen mag, obwohl genau das den Jungen, die sich auf der Straße duellieren, das Leben retten würde:
„You wanna stay alive?
Better do what you can, and beat it!
But you wanna be dead, just beat it!
Beat it!
No-one wants to beat, beat it!“
Und dann kam der legendäre Video-Clip zu Thriller heraus.
Heute, im Jahr 2020, sind wir von unzähligen Horror- und Zombie-Filmen derart abgebrüht, dass sich nicht einmal mehr ein Hund hinter dem Ofen verkriecht, der diesen nur fünfzehn Minuten dauernden Film sieht.
Damals, im Jahr 1984, haben die Moderatoren der Sendung Live aus dem Alabama, als der Thriller-Clip erstmals im Fernsehen gezeigt wurde, Kinder und Jugendliche ausdrücklich davor gewarnt!
Denn damals, als Michael Jackson seine Freundin vom Kino nach Hause begleitete, zum Vollmond empor sah und gerade noch „Geh weg!“ schrie, bevor er begann, sich unter grässlichem Heulen, Kreischen und Knurren und in schaurigen Details in einen Werwolf zu verwandeln, hielten sich Scharen von vierzehn- bis sechzehnjährigen Mädchen, darunter meinereine, die Ohren zu und mochten nur mit halbem Auge hinsehen!
Oder die Szene auf dem Friedhof, wenn all diese Zombies in schaurig-ekligen Stadien der Verwesung aus den Gräbern gekrochen kommen und Michael Jackson sich ebenfalls in einen Zombie verwandelt! Iiiiiiiiiihhhh!
Und dann gegen Ende die tiefe, unheilvolle Grabesstimme von Vincent Price:
„Darkness falls across the land.
Midnight hour’s close at hand.
Ghouls in search of human blood
will terrorize your neighbourhood…“
und sein Lachen, mit dem der Song endet. Niemand konnte so irre, so wahnsinnig lachen wie Vincent Price!
Doch was Michael Jackson bei den Video-Clips und auf seiner Welt-Tournee zum Thriller-Album an Showideen, an Licht- und Soundeffekten, vor allem aber an tänzerischem und darstellerischem Können zeigte, war erst der Anfang!
Bei den Tanzsequenzen, Kamera- und Lichteinstellungen zum Album Bad legte er noch eine Schippe drauf, ob in Smooth Criminal, das im Chicago der 1930er Jahre spielt, oder in Bad, das zwar munter von Cool aus West Side Story klaut, aber weit rasanter, eleganter und zugleich aggressiver herüberkommt.
Oder ein paar Jahre später das Video zu They Don’t Care About Us, in dem Michael Jackson gegen das Wettrüsten und die Kriegshetze der Militär-Streitkräfte Stellung bezieht; oder der Film zum Earth Song, den er als seinen wichtigsten und bedeutsamsten bezeichnet hat. Dieser Film zeigt den Regenwald am Amazonas, ein grünes, üppiges Paradies voller Schönheit und überquellender Lebensfülle, und dann gleich darauf seine grausame, gnadenlose Zerstörung und Vernichtung durch den Menschen…
Man mag zu Michael Jackson stehen, wie man will: Dass er sein Leben lang für die Rechte und den Schutz von Kindern in aller Welt, für Versöhnung und Frieden zwischen den Menschen, für die Bewahrung und den Erhalt unserer Erde und aller Lebewesen, die darauf leben, plädiert hat, und dass seine Clips und Shows überwältigende, ausgefeilte und präzise Meisterwerke waren, ist unbestritten!
Wie sieht es mit seinem Privatleben aus? Was ist an den Begebenheiten und Vorfällen dran, die sich auf seiner Neverland-Ranch, vor allem in seinem Haus zugetragen haben sollen?
Im Grunde kann ich genauso wenig mitreden wie die Millionen und Milliarden anderer Menschen, die weder in Neverland noch in Michael Jacksons Haus zu Besuch waren oder ihn auch nur annähernd kannten.
Außer seinen engsten Familienangehörigen und Assistenten wissen alle anderen, wissen wir doch nur folgende Tatsachen über ihn:
- dass er sein Privatleben unter Verschluss hielt und nur wenige Menschen nahe an sich herankommen ließ;
- dass er sein Leben lang still und schüchtern, um nicht zu sagen menschenscheu war;
- dass er von Kindesbeinen an kaum etwas anderes getan hat als arbeiten, erst mit seinen Brüdern, dann allein;
- und dass er seine Neverland-Ranch sowohl für die Kinder, die ihn dort besuchten, als auch für ihn selbst als einen Ort der Freiheit und der Träume, als einen Ort ohne Sorge, Not und Leid erdacht hatte.
Und dann, Anfang der 2000er Jahre, begann gegen ihn der lang andauernde, zermürbende Prozess wegen des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs von Kindern, den ich seinerzeit anhand der U.S.-Nachrichtenmagazine Time und Newsweek aufmerksam verfolgt habe. Ich erinnere mich noch an die Berichte der Presse, wie lange und akribisch Ermittler, Staatsanwälte und Untersuchungsrichter nach Spuren und Indizien suchten, und dass sie Michael Jacksons Leben, alles, was er tat und wann und wie, bis ins Kleinste ans Licht gezerrt und zerpflückt haben.
Damals wurde mir eines klar: In einem Land, das einen Präsidenten vor Gericht zerren und darauf plädieren kann, dass er seines Amtes enthoben wird, weil er eine Affäre mit einer erwachsenen, volljährigen Praktikantin hatte (wer erinnert sich an den Fall Bill Clinton / Monica Lewinsky?) wird kaum ein Verbrechen so streng, gnadenlos und unnachgiebig verfolgt, geächtet und bestraft wie ein Sexualdelikt.
Entsprechend wurde Michael Jackson behandelt und durch die Mangel gedreht, doch Tatsache ist und bleibt, dass er aus Mangel an Beweisen freigesprochen und für nicht schuldig erklärt wurde. Wäre dies geschehen, wenn die Ermittler auch nur für einen Fall von sexuellem Missbrauch stichhaltige, handfeste Beweise erbringen hätten können?
Wenn 2018, neun Jahre nach Michael Jacksons Tod, Kronzeugen auftreten und zu Protokoll geben, sie seien von ihm in seinem Haus missbraucht worden, dann frage ich mich:
Wenn es so war, warum haben sich diese Kinder seinerzeit ihren Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten nicht anvertraut? Wären ihre Aussagen wahr gewesen, hätten ihre Eltern Michael Jackson vor aller Welt zu Fall bringen und richten können, ohne dass es sie große Mühe gekostet oder dass ihnen von irgendeiner Seite Gefahr gedroht hätte.
Es wäre nicht einmal notwendig gewesen, dass diese Kinder direkt im Prozess gegen ihn ausgesagt hätten und ihm Auge in Auge gegenübergetreten wären. Hätten die Ermittler und Untersuchungsrichter jene, die heute ausgesagt haben, damals befragt und ihre Aussagen protokolliert, wären sie diesen Aussagen nachgegangen und hätten stichhaltige Beweise gefunden, dann hätten sie im Prozess gegen Michael Jackson zu einem klaren, eindeutigen Schuldspruch geführt.
Aber Aussagen und ein nachträglicher Prozess neun Jahre nach seinem Tod? Ganz gleich, wer über ihn aussagt und was er ihm vorwirft, ein Toter kann es weder bestätigen noch abstreiten. Und schließlich ist auch dieser neu aufgerollte Prozess ohne Ergebnis und damit ohne ein klares Urteil im Nichts verlaufen. Er hat nur erreicht, was er wohl bezwecken sollte: Michael Jacksons Ruf und Ansehen weltweit ein für alle Mal zu ruinieren.
Seinen Geist und seine Seele hat bereits der erste Prozess gebrochen; auch wenn er als freier Mann und unschuldig daraus hervorging. Denn nach den gnadenlosen, unerbittlichen Mühlen, durch die er gegangen war, blieb von ihm nur noch ein nachhaltig und dauerhaft geschwächter Schatten der Persönlichkeit übrig, die er vorher gewesen war.
Wie ich selbst zu Michael Jackson stehe? Ich kann und will mir über diesen Mann kein Urteil anmaßen, schon allein, weil ich ihn nicht persönlich gekannt habe.
Ich erinnere mich nur an den Film This is It, der ein Jahr nach seinem Tod in die Kinos kam und von den Proben und Vorbereitungen zu seinem Konzert in der Londoner O2-Arena berichtete; ein Konzert, das nie stattfand, weil er in der Nacht vor dem ersten Konzert an einer Überdosis des ihm verabreichten Narkosemittels Propofol starb.
Wie so viele Zuschauer habe ich Michael Jackson im Film beobachtet und sah:
- einen Mann, der in musikalischer Hinsicht in jedem Augenblick bis ins kleinste Detail und bis in die Bruchteile von Tönen und Harmonien hinein wusste, wovon er sprach und was er wollte;
- einen Mann, der in seinen Anforderungen und Anweisungen präzise, um nicht zu sagen penibel war, aber zugleich jeden Sänger, Tänzer und Musiker in seinem Team mit Sanftmut, Respekt und Liebe behandelte;
- einen Mann, der für den Frieden, für die Gleichwertigkeit aller Hautfarben, für die Rechte aller Kinder auf dieser Welt und für den Erhalt unserer Erde aufstand und eintrat, mit allen Mitteln und allen Kräften, die ihm zur Verfügung standen;
und nicht zuletzt
- einen Mann, der selbst mit fünfzig Jahren immer noch die Stimme und Ausstrahlung eines an Geist und Seele reinen, hochsensiblen jungen Mannes hatte, der noch am Anfang seines Lebens stand.
Und so sage ich abschließend nur eines:
Kann es sein, dass es auf dieser Welt nun einmal Menschen gab und gibt, deren Leben, Schaffen und Sein nicht alltäglich ist, die man mit herkömmlichen Begriffen und Schubladen weder erklären noch definieren und schon gar nicht beurteilen kann?