Die Leistung des Romans bzw. Films
Seine Bedeutung und Relevanz gewinnt Picknick am Valentinstag dadurch, dass sowohl der Roman als auch der Film sich nicht darauf beschränkt, eine legenden- oder märchenhafte Mystery-Geschichte zu erzählen. Die Qualität eines literarischen Werks erkennt man daran, dass es lange im Bewusstsein nachklingt, weil es bohrende, durchaus auch unbequeme Fragen aufwirft.
Im Fall von Picknick am Valentinstag liegt die zeitlos gültige Leistung der Autorin Joan Lindsay darin, dass sie schildert, „was für ein Muster das Geschehen webt“, sprich, welche Auswirkungen das spurlose Verschwinden von Miranda und Marion Quade und das Wiederauftauchen von Irma Leopold auf ihr unmittelbares Umfeld hat.
Da ist als erstes der Schock und die Beklemmung, die das Geschehen in den Gemütern der Schülerinnen am Appleyard College auslöst. Man kann das Gedankenkarussell förmlich sehen, das sich in den Köpfen der Mädchen in Gang setzt, die Vermutungen und Phantastereien, die sich immer weiter fortspinnen und verbreiten, je länger sich die Angelegenheit ohne ein konkretes, eindeutiges, erlösendes Ende hinzieht.
Und die Art, wie Mrs. Appleyard der Situation begegnet und versucht, das Aufbrodeln der Gerüchteküche zu unterbinden, hilft den Mädchen ganz und gar nicht: Sie verordnet strengstes Stillschweigen, und das nicht allein in der Öffentlichkeit. Nicht einmal untereinander dürfen sich die Mädchen über das Geschehen austauschen, weder bei ihrem täglichen Spaziergang noch auf den Korridoren oder sonstwo im Haus.
Vielleicht liegt in dieser Maßnahme der Grund, weshalb die Mädchen auf Irma als Betroffene losgehen: Man erzählt ihnen nichts, und sie dürfen einander nichts erzählen. Nun ist eine Augenzeugin, eine Überlebende zurückgekehrt, die Licht in das Dunkel bringen könnte, das alle umgibt - und es dennoch nicht kann, weil ihr die Erinnerung daran fehlt.
Leider ist die Nachricht in die Nachbarschaft durchgesickert, bevor Mrs. Appleyard das Schweigegebot offiziell verkündet hat. Nicht nur, dass Polizeibeamte im College ein und aus gehen, immer wieder Fragen stellen und sogar vor Ort ermitteln, ohne dass ihre Bemühungen zu einem Ergebnis führen; auf Grund der Polizeiberichte weiß bald die regionale und überregionale Presse und letzten Endes die Provinz Queensland von dem rätselhaften Verschwinden zweier Mädchen und einer Lehrerin.
Sprich, es geschieht genau das, was Mrs. Appleyard verhindern wollte: Alle Welt spricht über den Vorfall, und in Windeseile schießen die Spekulationen ins Kraut. Und wie immer wissen genau die Leute am besten Bescheid, die am weitesten vom Geschehen entfernt leben.
Gleichzeitig gewinnt das Geschehen nach und nach Einfluss auf das Leben vieler Menschen:
* Die Hilfslehrerin Dora Lumley quittiert den Dienst, wird von ihrem Bruder Reg abgeholt und übernachtet mit ihm im Hotel. Weil beide vergessen, die Kerze zu löschen, bevor sie zu Bett gehen, fängt ihr Zimmer Feuer. Noch bevor die Feuerwehr eintrifft, brennt das Hotel bis auf die Grundmauern nieder, und man findet nur noch Doras und Regs verkohlte Leichen.
* Michael Fitzhubert, ein junger Adeliger aus einer alten britischen Familie, der erst vor kurzem in Australien eingetroffen ist, um seinen Onkel und seine Tante in ihrer Sommerresidenz Lake View zu besuchen, bekommt Miranda nur kurz zu sehen, als sie mit ihren drei Gefährtinnen den Fluss am Fuß des Hanging Rock überquert. Doch allein der flüchtige Anblick ihrer Erscheinung genügt, dass er Miranda nicht mehr aus dem Kopf bekommt; sie erinnert ihn an einen Schwan, der mit einem einzigen Flügelschlag über einen Flussarm hinweg setzt.
Michael oder Mike, wie ihn sein Freund Albert Crundall nennt, kommt über Mirandas Verschwinden nicht hinweg und zieht gemeinsam mit Albert los, um nach ihr und den anderen verschwundenen Mädchen zu suchen. Weder von Alberts mahnenden Worten noch von dessen Entschluss, nach Lake View zurückzukehren, lässt sich Mike von seiner Suche abbringen.
Während er in den Felsen des Hanging Rock umherirrt, wird Mike immer wieder von Mirandas Erscheinung gepeinigt und meint, sie lachen und flüstern zu hören. Doch es ist nicht Miranda, sondern Irma, die er findet. Als er unbesonnen loseilt, um Hilfe zu holen, rutscht er ab und bleibt bewusstlos am Fuß eines Basalt-Felsblocks liegen.
Albert Crundall, der Kutscher und Stallknecht des Ehepaares Fitzhubert, der Mike in aufrichtiger Freundschaft zugetan ist, findet sowohl ihn als auch Irma und holt den Arzt von Macedon zur Hilfe. Gemeinsam bringen beide Mike und Irma sicher nach Lake View.
Für sein entschlossenes, beherztes Handeln wird Albert später von Irma Leopolds Vater reich belohnt, mit einem Scheck über 10.000 Pfund, der es ihm ermöglicht, im nördlichen Territorium ein paar Morgen Land und ein paar Pferde zu kaufen und sich als Pferdezüchter niederzulassen.
* Während ihres Genesungsurlaubs auf Lake View kommen Michael Fitzhubert und Irma Leopold einander näher.
Doch während Irma sich schon beim Überqueren des Flusses am Fuß des Hanging Rock beim flüchtigen Hinsehen unsterblich in Mike verliebt hat, bleibt jener unauflöslich in seine unerfüllte Liebe zu Miranda verstrickt.
Mike erkennt die Chance auf einen Neuanfang nicht, der sich ihm in Irmas Gestalt auftut, und verabschiedet sich in Freundschaft von ihr. Dann zieht auch er nach Nordaustralien, um ein Gut und Ländereien zu übernehmen und zu verwalten, die ein anderer Onkel von ihm gekauft hat, der plötzlich und unerwartet verstorben ist.
* Ein Aspekt soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Wenn Mike und Irma an den Ufern des Sees verweilen, dem Lake View seinen Namen verdankt, taucht hin und wieder ein Schwan auf, der beide zu beobachten scheint, dann mit einem einzigen eleganten Flügelschlag den Fluss überquert und im Unterholz verschwindet - so wie damals, als Miranda über den Fluss hinweg sprang und mit ihren Freundinnen im Gehölz des Waldes am Fuß des Hanging Rock verschwand.
* Für Sara Waybourne wiederum verschlechtert sich ihre Lage nach dem Vorfall am Hanging Rock zusehends. Als wäre es nicht genug, dass sie mit Miranda das einzige bisschen Glück und Freude verliert, das ihr in ihrem bisherigen Leben vergönnt war, bleibt der Besuch und die Zahlung ihres reichen Vormunds für Saras Kost und Logis im College aus.
Hat Mrs. Appleyard Sara bereits vorher gedemütigt und drangsaliert, sieht sie jetzt ihre Chance gekommen, die lästige Bürde in Gestalt dieses unbequemen Kindes loszuwerden, dessen Geist und Seele sich ihrer Autorität nicht beugt, ja, sich ihren Erziehungsmaßnahmen entschieden entgegenstellt.
Als Mrs. Appleyard ankündigt, dass sie Sara wieder in das Waisenhaus zurückschicken wird, das für sie die Hölle auf Erden war, ist diese Nachricht für Sara buchstäblich schlimmer als der Tod. In der Nacht zum Palmsonntag stürzt sie sich vom Turm des College-Gebäudes.
Am Gründonnerstag will der Gärtner Mr. Whitehead seine Hortensien gießen. Er nimmt einen seltsamen, widerwärtigen Geruch wahr und stellt fest, dass einer der Büsche schwer beschädigt ist. Erst beim näheren Hinsehen entdeckt er Saras Leiche, die seit vier Tagen unter dem Blätterdach der Hortensie begraben liegt.
* Trotz der Entschlossenheit, mit der sich Mrs. Appleyard dem Geschehen entgegenstellt, zieht das Verschwinden der Mädchen am Hanging Rock den Niedergang ihres Instituts wie auch ihres eigenen Lebens nach sich.
Zum einen nehmen die Eltern ihre Kinder von der Schule und ziehen ihr in finanzieller Hinsicht den Boden unter den Füßen weg. Zum anderen ertragen die Lehrerinnen auf Dauer die düstere, bedrückende Atmosphäre nicht, die seit dem Unglück über dem Anwesen liegt und alle belastet, und auch nicht die rigide, unbarmherzige Politik ihrer Chefin, so dass eine nach der anderen den Dienst quit-tiert und das College verlässt, erst Henrietta de Valance, dann Dora Lumley und schließlich Dianne de Poitiers.
Und dann trifft am Gründonnerstag - am gleichen Tag, an dem Sara Waybourne tot aufgefunden wird - völlig unerwartet ein Brief von Saras Vormund ein. Er teilt Mrs. Appleyard mit, dass er von einer langen Reise zurückgekehrt ist und sich mit Sara und ihr in seinem Hotel in Melbourne treffen möchte, um Einkäufe für das bevorstehende Osterfest zu machen; es sei an der Zeit, dass Sara ihr erstes Abendkleid bekommt.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass dieser Brief von Saras Vormund Mrs. Appleyard zu Grunde richtet.
Unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen und mitzuteilen, dass sich sein Mündel aus Verzweiflung in den Tod gestürzt hat, fährt sie am gleichen Tag mit der Kutsche zum Hanging Rock hinaus und steigt allein zu den Zacken und Blöcken der Basalt-Felsformation hinauf.
Auf demselben Plateau, auf dem einst vier Mädchen standen, die Welt von oben betrachteten und dann in Schlaf versanken, steht auch Mrs. Appleyard. In einer Felsspalte entdeckt sie eine Spinne mit langen schwarzen Beinen, vor der ihr graut. Um die Spinne zu vertreiben, will sie nach einem Stecken suchen.
Als sie sich umdreht, steht Sara in ihrem weißen Nachthemd vor ihr und sieht ihr direkt in die Augen.
Mit einem Ruck tritt Mrs. Appleyard an die Kante des Abgrunds und stürzt sich hinab in die Tiefe...