Ungute Orte
An dieser Stelle komme ich auf eine weitere Eigentümlichkeit zu sprechen, die sich gleich einem roten Faden durch mein Leben zieht: dass ich die Atmosphäre spüre, die an einem Ort herrscht, vor allem, wenn sich mir der Eindruck aufdrängt, dass dort etwas Ungutes buchstäblich in der Luft liegt. Dieses Wahrnehmungsvermögen ist womöglich gar nichts Paranormales, sondern lediglich ein besonderes Feingefühl der Sinne und Nerven, das manche Menschen haben und andere nicht; und zu bestimmten Zeiten in meinem Leben hatte ich es.
Kennen meine geneigten Leserinnen und Leser Orte, an denen man sich unwohl fühlt und nicht bleiben mag, ohne dafür einen konkreten Grund nennen zu können?
Ein solcher Ort war das Schlafzimmer meiner Großtante väterlicherseits. Vom Ostfront-Feldzug im Zweiten Weltkrieg bis kurz vor dem Ende ihres Lebens hatte sie im Obergeschoss eines alten Gasthauses nahe an der Grenze zwischen Deutschland und Tschechien eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, die ihr für ihre Ansprüche und Bedürfnisse genügte.
Wenn wir sie unter dem Jahr hin und wieder besuchten, gab es zuerst immer eine mehrstöckige Butter- oder Nusscremetorte, die sie aus einer Konditorei in Selb holte. Die Torten dieser Konditorei waren so mächtig und üppig, dass ein Stück genügte, um sowohl für den Nachmittag als auch für den Abend gesättigt zu sein; sie füllte einem den Verdauungstrakt vom Magen bis zum Gaumendach hinauf.
Gleichwohl gab es abends, bevor wir uns verabschiedeten und nach Hause fuhren, entweder Enten- oder Schweinebraten mit Blaukraut und Knödeln oder eine Platte mit Wurst- und Käse-Aufschnitt, mit sauren Gürkchen, Silberzwiebeln, Tomaten und Eiern reich garniert. Beides bestellte sie immer unten in der Gaststätte, brachte das Abendessen vom Erdgeschoss zu ihrer Wohnung unter dem Dach hinauf und bewahrte es in ihrem Schlafzimmer hinter dem Vorhang auf, der das reich bestückte Regal mit ihren Lebensmittelvorräten verbarg.
Abgesehen von dem Regal hinter dem Vorhang gab es in ihrem Schlafzimmer einen Kleiderschrank, einen Toilettentisch mit Schubfächern in Perlmutt-Optik und einem dreiteiligen Spiegel und ein riesiges Doppelbett aus schwerem dunklem Holz, dessen Bettzeug stets mit weißem Leinen überzogen und von einer gehäkelten Tagesdecke aus weißem Filetgarn verhüllt war.
Als Kind habe ich mich manchmal in dieses Schlafzimmer zurückgezogen, wenn mir die energisch debattierenden Stimmen meiner Eltern und meiner Großtante in ihrem kleinen Wohnzimmer für mein Empfinden zu laut wurden. Denn im Schlafzimmer war niemand, so dass es hier immer still war.
Eine Zeitlang genoss ich den Anblick des Toilettentisches mit seinen blitzenden Spiegelflächen und den vielen perlmuttern schimmernden Schubfächern, hob den Deckel der großen runden Puderdose an (deren Quaste mir zu groß war und in der zuviel Puder staubte, als dass ich ihn anzuwenden gewagt hätte) oder schnupperte an einem der beiden Parfümflacons aus schwerem Kristallglas (deren Duft mir zu schwer und lastend war).
Doch jedes Mal, wenn ich vom Toilettentisch zum weißen Doppelbett mit seiner weißen gehäkelten Tagesdecke hinüber blickte, hatte ich den Eindruck, vor einem offenen leeren Sarkophag zu stehen. Gewiss hat meine Großtante jede Nacht in diesem Bett geschlafen; doch für mich hatte es etwas von der marmornen, reglosen Sterilität eines Totenschreins.
An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass meine Großtante dieses Doppelbett nur kurze Zeit zu zweit genutzt hat: von ihrer Hochzeitsnacht bis zu dem Tag, an dem ihr Mann seinem Einberufungsbefehl an die Ostfront foigte. Und seit sich ihr Mann an die Front verabschiedete, hat sie fünfundvierzig lange Jahre von ihm nichts gehört und gesehen, obwohl sie Suchaufträge bei der Bundeswehr und beim Roten Kreuz aufgab, bis sie 1990 endlich einen Brief bekam, dass ihr Mann in Russland an der Front gefallen sei.
Fünfundvierzig lange Jahre hat sie auf die Rückkehr ihres Mannes bzw. wenigstens auf ein Lebens- oder Todeszeichen von ihm gewartet, das nicht kam; und in dieser Zeit hat sie sich auf keinen anderen Mann eingelassen, nie mehr einen Freund oder gar Lebensgefährten gesucht und gehabt. Von daher ist der Gedanke, dass dieses Doppelbett ein Sarkophag war, gar nicht so abwegig: Es war das Grabmal einer nicht gelebten Ehe.
Es dauerte nie lange, bis der Anblick dieses Doppelbettes so bedrückend, ja beklemmend auf mich wirkte, dass ich Kopfschmerzen und einen Anflug von Übelkeit verspürte, so dass ich lieber wieder in das Wohnzimmer, sprich, aus einer Totenkammer zu meiner Großtante und meiner Familie und damit ins Leben zurückkehrte.
Einmal - es muss in meinem sechzehnten Lebensjahr gewesen sein, kurz bevor ich meine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin in Coburg begann - verbrachte ich von Freitag bis Sonntag ein Wochenende mit meiner Großtante und habe neben ihr in diesem Doppelbett...nicht geschlafen, nur übernachtet.
Die sterile, laut- und reglose Stille in diesem Schlafzimmer und Bett beschwor wieder das Gefühl einer bedrückenden Beklemmung in mir herauf, das sich im Dunkel der Nacht deutlich stärker als tagsüber bemerkbar machte; und obwohl ich weder etwas Ungewöhnliches sah noch hörte, fand ich in diesen beiden Nächten keine Ruhe, geschweige denn Schlaf.
Einmal und nie wieder!
Ein Ort, der sich für mich auf ähnliche Weise ungut anfühlte, war die Bibliothek im siebten Stock des Studentinnenwohnheims, in dem ich von Mitte 1986 bis Ende 1988 während meiner Studienzeit in Erlangen ein Zimmer hatte.
Im Erdgeschoss des Wohnheims befand sich der Empfangsraum mit ein paar Stühlen rund um einen niedrigen schlichten Tisch und nebenan das Musikzimmer, in dem ein schöner alter Bechsteinflügel stand, der sich im Lauf der anderthalb Jahre, die ich in diesem Studentinnenwohnheim zubrachte, hörbar verstimmte.
Leider hat der Freund einer Mitbewohnerin, der sich einbildete, Klaviere stimmen zu können, damals den Klang dieses Flügels mit seinem Pfusch endgültig ruiniert...
Auf sechs Stockwerken lagen jeweils zwanzig Zimmer für die Bewohnerinnen, und jede Etage war mit zwei Duschen, zwei Toiletten, einer Teeküche und einem Gemeinschaftsraum ausgestattet.
Im sechsten Stock endete der Aufzug; zum siebten Stock gelangte man über eine Treppe hinauf, und dort oben gab es drei Türen. Die linke führte in die Bibliothek, hinter der in der Mitte lag die elektronische Steuerung des Aufzuges und der Auslöser für die Hydraulik, die ihn hob und senkte, und durch die rechte Tür gelangte man in eine kleine Kapelle.
An der Längsseite gegenüber der Tür zog sich ein Buntglasfenster gleich einem Relief entlang, an der Stirnseite stand ein Altar aus dunkelgrauem Granit mit einem schlichten Holzkreuz darauf und drei dicken Kerzen, die sich um das Kreuz verteilten. Für jene, die sich zu einem stillen Gebet zurückziehen wollten, gab es acht Stuhlreihen à fünfzehn Stühle pro Reihe, und die Tür war nie verschlossen.
Öffentliche Gottesdienste und Beichten fanden hier nicht statt, wohl aber informelle Andachten und Gebetsabende, die einige Bewohnerinnen, darunter auch meinereine, mit Kerzenschein, Gitarre, Gesang und Gebet selbst gestalteten.
Zwar herrschte in dieser Kapelle auf Grund der Buntglasfenster gedämpftes Licht, doch wirkte sie deshalb nicht düster. Irgendwie strahlte sie immer ein stilles aber herzliches Willkommen aus, und obwohl es in diesem Raum keine Heizung gab, verspürte man eine behagliche Wärme. Stets waberte ein feiner Duft in der Atmosphäre, ähnlich wie von Edelrosen, obwohl auf dem Altar nie lebendige Rosen standen. Ein Duft, fein und unaufdringlich, nie schwer und schwül, aber deutlich wahrnehmbar. Kurz, in die Kapelle kam ich oft und verweilte gerne dort.
Aber die Bibliothek... Dabei war an ihrem Anblick nichts Abweisendes oder gar Abstoßendes. Durch die Reihe der schmalen Mansardenfenster fiel ausreichend Licht herein, um zu lesen oder still und ungestört zu arbeiten. in den schlichten Holzregalen standen Klassiker der Unterhaltungsliteratur und zur damaligen Zeit aktuelle Bestseller, Lebensratgeber und meditative Andachtsbücher. Unter der Fensterzeile standen zwischen den Bücherregalen zwei Arbeitstische mit je zwei Stühlen, ein weiterer in der Mitte des Raumes, und neben der Tür ein Pult, auf dem das kleine karierte Schulheft aufgeschlagen lag, in dem man das erwählte Buch mit Titel, Ausleih- und Rückgabedatum vermerkte.
Kurz, dieser Raum war ganz und gar alltäglich und nüchtern.
Doch jedes Mal, wenn ich mich in der Bibliothek mit einem Buch niederließ, empfand ich eine bleierne Beklemmung. die mit jeder Minute, die ich hier verbrachte, schwerer und drückender wurde. Dieser Raum glich einer Kuppel aus Schweigen und Stille; eine Stille, die vom Klicken und Schnappen der elektronischen Steuerung im Aufzugsschacht eher betont und vertieft wurde, als dass diese Geräusche sie unterbrochen oder gar aufgehoben hätten. Außer jenem leisen Klicken und Schnappen war in der Bibliothek nichts zu hören, und abgesehen von den Büchern gab es hier auch nichts zu sehen.
Es half mir nicht, dass ich mich auf den Inhalt des Buches zu konzentrieren versuchte, das ich las. Zwar nahm ich das Gelesene auf, nahm dabei aber stets jene bleierne Stille wahr, die Geist und Seele weder einlud noch freundlich aufnahm, sondern etwas Kaltes, Steriles, Drückendes hatte. Und jedes Mal drängte sich mir der Gedanke auf, dass in diesem Raum einmal etwas Ungutes geschehen sein musste, das die Atmosphäre auf solch unangenehme Weise verdichtete.
Hatte eine Depression mit ihrem bleiernen Gewicht am Gemüt einer Studentin gezogen, bis sie ihren Zustand nicht länger ertragen hatte und aus einem der Mansardenfenster gesprungen war? Oder war der einen oder anderen Bewohnerin dieses Hauses etwas angetan worden? Hatte man sie physisch oder psychisch gequält, und war ihr stilles Leid, das sie nur diesem Raum anvertraut hatte, hier in der Luft hängen geblieben?
Während der anderthalb Jahre, die ich in diesem Studentinnenwohnheim lebte, war ich insgesamt nur an drei freien Nachmittagen in der Bibliothek im siebten Stock gewesen, und ganz gleich, was ich las, mein Empfinden war dasselbe. Nachts, wenn es draußen dunkel war, hätten mich keine zehn Pferde in diesen Raum gebracht!
Hin und wieder schilderte ich meinen Eindruck der einen oder anderen Bewohnerin dieses Hauses, mit der ich damals befreundet war; doch wenn ich darauf zu sprechen kam, taten sie es mit einem Schulterzucken und einem unverbindlichen Murmeln ab. Doch ich bemerkte, dass nur selten eine Mitbewohnerin die Bibliothek aufsuchte und sich darin aufhielt. Denn die kleine Kapelle gegenüber habe ich am Abend oft aufgesucht, doch in der Bibliothek war zur gleichen Zeit niemand...
Ein anderer unguter Ort, der den Münchnerinnen und Münchnern unter meinen Lesern dem Namen nach bekannt sein dürfte, ist kein Raum, sondern liegt im Freien, fühlt sich aber ähnlich beklemmend an, wenn auch auf andere Art. Doch vielleicht empfinde ich den Aufenthalt an diesem Ort nur deshalb als unangenehm, weil ich seine Geschichte kenne.
Südlich von München spannen sich zwei Brücken über die tiefe und steile Schlucht der Isar, die beide Ufer miteinander verbinden: die Grünwalder Brücke zwischen Pullach und dem Ort Grünwald mit seiner Ritterburg, die stolz über dem Isarhochufer thront, und etwa zehn Kilometer und zwei Kurven nördlicher die Großhesseloher Brücke, die vom gleichnamigen Münchner Vorort zur Menterschwaige hinüber führt.
Vom Ausklang des 19. Jahrhunderts, als die Großhesseloher Brücke erbaut wurde, bis gegen Ende der 1990er Jahre wurde ihr ein tragischer Ruhm zuteil: Sie übte eine verhängnisvolle Anziehungskraft auf Selbstmörder aus, die sich von ihrem Brückengeländer ins steinige Bett der Isar stürzten, und über die Jahrzehnte hinweg waren es nicht wenige, die auf diese schnelle, relativ schmerzlose Weise aus dem Leben schieden.
Um dieser traurigen Anziehungskraft ein Ende zu setzen, wurden in den 1990er Jahren über den beiden Brückengeländern dichte Stahlgitter hochgezogen, durch die man nicht hindurch kommt und fast schon akrobatisches Geschick braucht, um über sie zu klettern, und seither hört man kaum mehr davon, dass jemand von der Großhesseloher Brücke in den Tod gesprungen ist.
Zwischen 2006 und 2018, als ich in Pullach oder eher im Ortsteil Höllriegelskreuth berufstätig war (den kaum ein Brite oder Amerikaner auszusprechen vermag), bin ich an einem Sechs-Stunden-Freitag am Ende der Arbeitswoche öfters am Baumbestand des Isarhochufers entlang von Höllriegelskreuth zum Ortskern von Pullach spaziert und habe dabei zur Grünwalder Burg und Brücke hinüber geschaut.
Doch in dem Waldstück zwischen Pullach und Großhesselohe war ich nur selten unterwegs. Zwar liegt darin eine Jugendherberge und die Waldwirtschaft, in der im Sommer am Sonntagmittag Jazzkonzerte stattfinden. Doch wenn man von der Waldwirtschaft dem Weg durch den Wald Richtung Norden folgt, beginnen bald die Stacheldrahtzäune des BND-Geländes und nehmen bis zum Übergang in den Ortsteil Großhesselohe kein Ende. Ein umzäuntes Gelände, von dem man weiß, dass dahinter der Geheimdienst nistet und sich darüber ausschweigt, was hinter dem Stacheldraht vor sich geht, hat für mich nichts Einladendes...
Ein einziges Mal bin ich mit einer ehemaligen Kollegin und ihrem kleinen Sohn von Großhesselohe über die Brücke zur Menterschwaige hinüber und wieder zurück gelaufen, und dieses eine Mal reichte mir. Weder sie noch ihr Sohn dachten sich etwas dabei; beide genossen den Weitblick über die Isar, den sonnigen Tag und folgten unbeschwert dem Bogen der Brücke mit ihren Stahlgittern auf beiden Seiten.
Doch wer schon einmal auf der Großhesseloher Brücke unterwegs war, weiß, dass auf dem Weg von einem Ufer zum anderen heftige Fallwinde einsetzen, die scheinbar aus dem Nichts kommen. Eiskalt und schneidend zerren und reißen sie am Haar und an der Kleidung, und dieses Zerren und Reißen dauert an, solange man auf der Brücke die Isar überquert. Betritt man das gegenüberliegende Ufer, hört der eisige Zug auf, und es wird schlagartig windstill.
Auf dem Weg von Großhesselohe zur Menterschwaige und zurück behielt ich vor meiner Ex-Kollegin und ihrem Kleinen meine Gedanken für mich. Auch als wir im Isarbräu, dem Wirtshaus im vormaligen Bahnhofsgebäude saßen und uns an Schweinebraten mit Knödeln gütlich taten, erzählte ich nichts von dem, was ich wusste und dachte.
Doch an jenem Nachmittag hatte ich den Eindruck, als hätten einige der unglücklichen Seelen, die vom Geländer der Großhesseloher Brücke in den Tod gesprungen sind, in ihrem nassen Grab nie Ruhe gefunden und trieben noch heute über der Isar ihr Unwesen, eben in Gestalt dieser Fallwinde...