Faszination der erfüllten Sehnsucht - Goethes Italiensche Reise
Dass Goethes Leben, Schaffen und Werk - allen voran Balladen wie Der Schatzsucher und Der Erlkönig und seine Dramen Götz von Berlichingen und Faust als Musterbeispiele - Generationen von deutschen Schülerinnen und Schülern aufoktroyiert wurde, hat nicht selten dazu geführt, dass sich viele von ihnen mit dem Ende ihrer Schulzeit sofort von ihm und seinem Schaffen abgewendet haben, eben weil er von Generationen von Deutschlehrern als größte Ikone Deutschlands herübergebracht wurde, an deren Rang weder zu zweifeln noch gar zu rütteln war.
Und da er zum einen von Frankfurt bis Straßburg, zum anderen von Dresden über Weimar bis Karlsbad sein Unwesen getrieben hat - in den von mir bezeichneten Gebieten gibt es kaum einen Ort, in dem nicht wenigstens ein Haus verkündet, wann Goethe sich hier aufhielt -, entkommt man diesem Namen nicht, man mag gehen, wohin man will, bis einem der Herr Geheime Rat Johann Wolfgang von Goethe geradezu auf die Nerven geht.
Es gehört ein beträchtlicher zeitlicher Abstand und ein gewisses Maß an geistig-seelischer Reife dazu, sich später im Leben freiwillig an Goethes Leben und Schaffen heranzuwagen. Doch tut man es, braucht man nicht lange und viel über ihn zu lesen, um zugeben zu müssen, dass es in Deutschland nur wenige Menschen mit der Bandbreite seines Geistes und seiner Kenntnisse aufnehmen können.
Was Dichtung und Dramatik angeht, kann im Grunde nur Friedrich von Schiller als sein Gegenpart auf gleicher Ebene gelten; nur, dass Schillers Leben leider mit nicht einmal vierzig Jahren erlosch.
Was die Naturwissenschaften angeht, kommen nur wenige deutsche Forscher und Gelehrte an die Bandbreite an Gebieten heran, in denen Alexander von Humboldt unterwegs war - Geologie, Geographie und Geometrie, Botanik, Biologie und Ethnologie...
Doch es ist allein Goethe, der sowohl in den Geistes- als auch den Naturwissenschaften zu Hause war und es fertigbrachte, das Wissen und Können, das er im Lauf seines Lebens in den immensen Speichern seines Gehirns anhäufte, jederzeit anzuwenden und scheinbar mühelos zwischen der geistig-immateriellen und der gegenständlich-materiellen Welt zu pendeln.
Was bei dem alles überstrahlenden Nimbus von Goethe als Dichterfürsten und Universalgenie meist übersehen wird, obwohl es aus seinen Tagebüchern, seiner Briefkorrespondenz mit Gleichgesinnten und seinen biographischen Aufzeichnungen deutlich und eindringlich hervorgeht:
Bis kurz vor seinem vierzigsten Lebensjahr wurde er von Krisen, massiven Selbstzweifeln und einer Serie unglücklich endender Liebesbeziehungen heimgesucht. Es ging ihm um die existenzielle Frage, wohin sein Weg ihn in letzter Konsequenz führen sollte: in das solide, gutbürgerliche Dasein eines Ministerialbeauftragten und Sonderbotschafters des Herzogs von Sachsen-Thüringen oder in das ungesicherte, den Launen des Publikums und des Zeitgeistes ausgesetzte Leben als Dichter und Dramatiker.
Obwohl ihm Carl August, sein Mäzen und Gönner zu Weimar, das Verweilen und den Verkehr in beiden Sphären gestattete, haderte Goethe mit der Frage, was für ihn der richtige Weg war. Und es war ausgerechnet die am längsten anhaltende und von ihm ernster als alle anderen gemeinte Liebe zu Charlotte von Stein, zu der er sich vor den Augen der Gesellschaft, in der er verkehrte, nie öffentlich vor aller Welt bekennen durfte.
Und in ihm lebte eine Sehnsucht, geschürt und genährt von seinen engsten Vertrauten und Mentoren Herder und Wieland, das Land der klassischen Antike, von dem seit seiner frühen Jugend fast jeder halbwegs gebildete Deutsche träumte, wirklich und leibhaftig kennenzulernen: Italien und vor allem Rom. Eine Sehnsucht, die in ihm von Jahr zu Jahr wuchs und ihn mehr und mehr umtrieb....
Bis er sich am 3. September 1786 von der Weimarer Hofgesellschaft, von der nach Abreise des herzoglichen Ehepaares und der Frau von Stein außer Goethe nur das Ehepaar Herder noch ein paar Tage zur späten Sommerfrische in Karlsbad blieb, buchstäblich bei Nacht und Nebel davonstahl.
Nur mit dem Anzug, den er auf dem Leib trug, und einem kleinen Koffer mit wenig Gepäck darin machte Goethe sich um drei Uhr auf zur Poststation und ging auf große Fahrt Richtung Süden, dem Land entgegen, dem seine Sehnsucht galt.
"Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
ein milder Wind vom blauen Himmel weht,
die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?"
Aus heutiger Sicht dauerte allein die Reise von Karlsbad bis zu seiner ersten Station Verona eine Ewigkeit. 13 Tage lang war er mit der Postkutsche unterwegs, blieb aber in Verona und Vicenza nur insgesamt fünf Tage, bis er nach Venedig weiterreiste, das ihn so faszinierte, dass er ganze 16 Tage blieb.
Wenn ihn Venedig derart gefesselt hat, dass es ihn so lange davon abhielt, seinem eigentlichen Ziel Rom entgegen zu streben (wofür ich durchaus Verständnis habe), frage ich mich, weshalb Florenz ihn nicht zu halten vermochte. Ausgerechnet die Stadt, die genauso von und mit den bildenden Künsten lebt wie Venedig und Rom, und die im 15. und 16. Jahrhundert noch ernsthafter und nachhaltiger als die beiden vorgenannten Städte daran ging, in seinen Bauten, Statuen und Gemälden den Geist der klassischen Antike neu aufleben zu lassen!
Was hätte gerade einer wie Goethe, der sich in Rom, Neapel und Sizilien bei jeder Säule und jeder Statue aufhielt und seine Betrachtungen anstellte, im Dom von Florenz, in den Palästen der Medici und anderer Adelsfamilien und in den Sälen und Gewölben der Uffizien für Schätze mitnehmen können!
Aber nein, Goethe ist an einem einzigen Tag durch Florenz geeilt und hatte nur noch Rom im Sinn, das er nach 26 Tagen Geruckel und Geschaukel in einem klapprigen Einspänner am 1. November 1786 erreichte.
Zu Beginn der Fastenzeit nach Ende des römischen Karnevals, d.h. am 22. Februar 1787, brach er gemeinsam mit dem Maler, Graphiker und Kunstförderer Tischbein nach Neapel auf. Zwar blieb er dort nur knapp einen Monat lang, bekennt aber, dass es die Stadt an den Hängen und zu Füßen des Vesuv war, die ihm erst die Augen und alle Sinne in vollem Umfang für das Leben im Süden Europas geöffnet hat.
Schließlich reiste er mit dem Küstenkutter von Neapel weiter nach Sizilien, wo er sechs Wochen lang die Insel durchquerte und noch viel mehr Überreste aus der Zeit der klassischen Antike als in Rom vorfand. Trotz der grandiosen, eindrucksvollen Landschaften und der vielen Tempelruinen, die er eingehend studierte, blieb er in Sizilien nur einen Monat und zehn Tage und kehrte dann noch einmal nach Neapel zurück, wo er weitere sechs Wochen lang in Tischbeins Gesellschaft als Gast des Hofrats von Reitzenstein und des Fürsten Lucchesini verweilte.
Am 8. Juni 1787 kehrte Goethe ohne Tischbein, der in Neapel zu bleiben und zu wirken gedachte, nach Rom zurück. Doch nun bekam er über Angelika Kauffmann, die ihn in die Kreise einführte, die seinen Anlagen und Bedürfnissen entsprachen, gleich drei deutschsprachige Maler und Bildhauer an die Hand, die ihn bereitwillig und gründlich unterrichteten. Fortan machte er sowohl in den bildenden Künsten als auch in seinen dramatischen Werken rasche Fortschritte. Zwei Singspiele und seinen Egmont schloss er ab und sandte seine Werke nach Weimar, und zum Torquato Tasso und zur Iphigenie auf Tauris entstanden erste Entwürfe.
Und so wurde er in einer der kreativsten, vielseitigsten und fruchtbarsten Abschnitte seines Lebens ganze neun Monate lang in Rom sesshaft, bis er im April 1788 schweren Herzens und sehnsuchtskrank nach Weimar zurückkehrte.
Uns Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts, die wir in zwei Stunden von München nach Rom fliegen oder klimaschonend mit dem Brenner-Express über Nacht die Alpen überqueren, von zwei Uhr bis fünf Uhr morgens in Verona Halt machen, um 8:30 Uhr Venedig und gegen 14:30 Uhr Rom erreichen, erscheint die Reise mit der Postkutsche oder im Küstenkutter heutzutage wie ein Dahinkriechen im Schneckentempo; und während wir heute sehr bequem, da gut gepolstert und gefedert unterwegs sind, war das ewige Schlagen und Stoßen der Radachsen einer Kutsche für die Reisenden früherer Zeiten eine körperlich anstrengende Strapaze.
Dafür aber geht uns durch die extrem hohe Geschwindigkeit, mit der wir unterwegs sind, der Blick für die Landschaften und Gegenden verloren, die uns umgeben. Von den unterschiedlichen Formen und Beschaffenheiten des Bodens und des Gesteins der Berge, vom Anblick der Vegetation und ihren Aromen nehmen wir kaum etwas wahr; es wird uns nicht einmal mehr bewusst, was für eine immense Masse an Land wir auf dem Weg von München nach Rom überqueren, wenn wir darüber hinweg fliegen.
Doch wenn ein Vierergespann oder später ein miserabel gefederter Einspänner in gemächlichem Schritt durch die Gegend ruckelt und schaukelt, dann werden Wiesen und Felder, Berge und Wälder samt der Flüsse und Wasserfälle zu Begleitern, die den Weg säumen; dann erlebt man mit geradezu minutiöser Genauigkeit, wie sich die Umgebung zu verändern beginnt bzw. im Lauf einer Tagesreise verändert hat.
Bemerkenswert an Goethe ist, dass er den Landschaften und Städten, die er erkundet, nicht primär als Wissenschaftler begegnet, auch wenn er später seine Beobachtungen und Vergleiche festhält und katalogisiert. Wenn er unterwegs ist, kann man ihn mit einem wandelnden Radar vergleichen, das alle Eindrücke auffängt und sich von ihnen durchströmen lässt.
Ob es um die Beschaffenheit von Böden und Gestein geht, um die natürliche Vegetation, die in einer Gegend wächst und die Feldfrüchte und Baumplantagen, die bewusst und gezielt angepflanzt werden, um die Vermächtnisse der klassischen Antike in Gestalt von Statuen, Säulen, Torbögen und Tempeln, um die Menschen, die auf den Straßen und Plätzen einer Stadt ihren Beschäftigungen nachgehen - Goethe registriert alles, ihm ist alles gleichermaßen wichtig und bedeutsam, und nur selten geschieht es, dass er etwas gering schätzt oder gar abwertet; meist nur, wenn es auf irgendeine Weise seinen Sinn für Ästhetik stört.
Genau das macht die Italienische Reise auch für die Leserin und den Leser der heutigen Zeit noch genießbar: Hier schildert einer alles, was ihm begegnet, voll hellwacher Neugier und mit spürbarem Genuss. Und weil er mit dem, was ihm begegnet, überwiegend einverstanden ist, durchdringt eine tiefe Ruhe und Gewissheit seine Sprache, die sich dem Lesenden mitteilt; zumindest erging es mir beim Lesen so.
Durch seine Eindrücke, die Goethe notiert und hinterher als Italiensche Reise zusammengefasst hat, scheint immer wieder der Begriff des sinnlichen Wahrnehmens und Erlebens hindurch. Auch wenn ihm seine Pilgerfahrt durch Italien und sein Aufenthalt in Rom zu einer Quelle mannigfaltiger Erkenntnisse wurde, die sich zu geistigen Formen verdichteten, war Goethe doch überwiegend mit den Sinnen unterwegs. Dass er aus Sinneseindrücken allgemein gültige Gesetze der Ästhetik und des Werdens und Seins ableitete, ist der an den Naturwissenschaften geschulte Fähigkeit seines Geistes geschuldet, das Wahrgenommene zusammenzufassen, es einzuordnen und daraus Schlüsse zu ziehen.
Doch ebenso, wie Goethe immer wieder betont, dass sich sein Erkennen primär über seine Sinne vollzieht, stellt er auch deutlich und wiederholt klar, dass die Reise durch Italien und sein Aufenthalt in Rom sein Weg der Läuterung und der Erkenntnis war und dass es ganz und gar nicht in seiner Absicht lag, in Stein gemeißelte Lehren für die Menschheit aufzustellen und zu verkünden.
Goethe ist während der gut anderthalb Jahre, die er in Italien zubrachte, etwas widerfahren, das nur wenigen Reisenden vergönnt ist: dass die Wirklichkeit, die er vor Ort vorfand, sich mit dem deckte, was er sich vorher jahrzehntelang vorgestellt und erträumt hatte; dass er fand, wonach er gesucht hatte und in seinen Erwartungen kaum enttäuscht wurde.
Er verschweigt nicht, dass dies mit einem hohen Maß an Umlernen und Neu-Lernen einherging, das ihm nicht immer leicht fiel. Doch stets überwog der Gewinn, den er aus seinen Erlebnissen und Begegnungen zog, der ihm bleiben und nach seiner Rückkehr nach Weimar bis ans Ende seines Lebens in ihm nachhallen sollte.
Und während seiner Zeit in Rom, Neapel und Sizilien wurde ihm eindeutig klar - zum Glück für das Erbe der Menschheit und für Generationen deutscher Scbülerinnen und Schüler auch ein wenig zum Fluch -, dass sein Dasein fortan das eines Dichters und Dramatikers sein würde.