Informationen zum Datenschutz
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Wir nutzen auf Wunsch nur technisch erforderliche Cookies die nach dem Schließen des Browsers wieder gelöscht werden. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung .  
Nur essentielle Cookies erlauben    Essentielle und Analysecookies erlauben

Impressum | Datenschutzerklärung
Blog

Weggefährten

Von jenen, die mich in meiner Entwicklung am stärksten geprägt haben, möchte ich in meinen Beiträgen erzählen...



Vorwort zu meinem Blog-Bereich „Weggefährten“

Es gibt Neues von mir! Zwischen dem 16. und 31. Dezember 2019 ist mein neues Buch „Weggefährten – Eine kleine Dankmusik“ erschienen, dessen Kapitel zugleich die Beiträge dieses Blog-Bereiches sind.

„Weggefährten“ entspringt einem ähnlichen Bedürfnis wie mein Vorgängerwerk „EUROPRISMA – Meine Seelenreisen“, nur möchte ich diesmal nicht Städten und Ländern danken, in denen ich zu Gast war. Diesmal geht es mir um Persönlichkeiten und Phänomene des 20. Jahrhunderts – einige gehen noch ein bisschen weiter zurück -, die mich zu der gemacht haben, die ich heute bin.

Natürlich kann man sagen: Was man wird und was man aus sich und seinem Leben macht, liegt in der eigenen Verantwortung. Gewiss. Doch zur geistig-seelischen Entwicklung eines Menschen gehören ebenso inspirierende oder gar entscheidende Anstöße und Impulse von außen.

Von jenen, die mich in meiner Entwicklung am stärksten geprägt haben, möchte ich in meinen Beiträgen erzählen und würde mich freuen, wenn auch IIhr mit einsteigen und von euren entscheiden-den Impulsgebern oder Wegweisern erzählen würdet.


10.09.2023 - Faszination der erfüllten Sehnsucht - Goethes Italienische Reise
Was bei dem alles überstrahlenden Nimbus von Goethe als Dichterfürsten und Universalgenie meist übersehen wird, obwohl es aus seinen Tagebüchern, seiner Briefkorrespondenz mit Gleichgesinnten und seinen biographischen Aufzeichnungen deutlich und eindringlich hervorgeht: Bis kurz vor seinem vierzigsten Lebensjahr wurde er von Krisen, massiven Selbstzweifeln und einer Serie unglücklich endender Liebesbeziehungen heimgesucht. Es ging ihm um die existenzielle Frage, wohin sein Weg ihn in letzter Konsequenz führen sollte: in das solide, gutbürgerliche Dasein eines Ministerialbeauftragten und Sonderbotschafters des Herzogs von Sachsen-Thüringen oder in das ungesicherte, den Launen des Publikums und des Zeitgeistes ausgesetzte Leben als Dichter und Dramatiker. Obwohl ihm Carl August, sein Mäzen und Gönner zu Weimar, das Verweilen und den Verkehr in beiden Sphären gestattete, haderte Goethe mit der Frage, was für ihn der richtige Weg war. Und es war ausgerechnet die am längsten anhaltende und von ihm ernster als alle anderen gemeinte Liebe zu Charlotte von Stein, zu der er sich vor den Augen der Gesellschaft, in der er verkehrte, nie öffentlich vor aller Welt bekennen durfte. Und in ihm lebte eine Sehnsucht, geschürt und genährt von seinen engsten Vertrauten und Mentoren Herder und Wieland, das Land der klassischen Antike, von dem seit seiner frühen Jugend fast jeder halbwegs gebildete Deutsche träumte, wirklich und leibhaftig kennenzulernen: Italien und vor allem Rom. Eine Sehnsucht, die in ihm von Jahr zu Jahr wuchs und ihn mehr und mehr umtrieb.... Bis er sich am 3. September 1786 von der Weimarer Hofgesellschaft, von der nach Abreise des herzoglichen Ehepaares und der Frau von Stein außer Goethe nur das Ehepaar Herder noch ein paar Tage zur späten Sommerfrische in Karlsbad blieb, buchstäblich bei Nacht und Nebel davonstahl. Nur mit dem Anzug, den er auf dem Leib trug, und einem kleinen Koffer mit wenig Gepäck darin machte Goethe sich um drei Uhr auf zur Poststation und ging auf große Fahrt Richtung Süden, dem Land entgegen, dem seine Sehnsucht galt.


Faszination der erfüllten Sehnsucht - Goethes Italiensche Reise


Dass Goethes Leben, Schaffen und Werk - allen voran Balladen wie Der Schatzsucher und Der Erlkönig und seine Dramen Götz von Berlichingen und Faust als Musterbeispiele - Generationen von deutschen Schülerinnen und Schülern aufoktroyiert wurde, hat nicht selten dazu geführt, dass sich viele von ihnen mit dem Ende ihrer Schulzeit sofort von ihm und seinem Schaffen abgewendet haben, eben weil er von Generationen von Deutschlehrern als größte Ikone Deutschlands herübergebracht wurde, an deren Rang weder zu zweifeln noch gar zu rütteln war.

Und da er zum einen von Frankfurt bis Straßburg, zum anderen von Dresden über Weimar bis Karlsbad sein Unwesen getrieben hat - in den von mir bezeichneten Gebieten gibt es kaum einen Ort, in dem nicht wenigstens ein Haus verkündet, wann Goethe sich hier aufhielt -, entkommt man diesem Namen nicht, man mag gehen, wohin man will, bis einem der Herr Geheime Rat Johann Wolfgang von Goethe geradezu auf die Nerven geht.

Es gehört ein beträchtlicher zeitlicher Abstand und ein gewisses Maß an geistig-seelischer Reife dazu, sich später im Leben freiwillig an Goethes Leben und Schaffen heranzuwagen. Doch tut man es, braucht man nicht lange und viel über ihn zu lesen, um zugeben zu müssen, dass es in Deutschland nur wenige Menschen mit der Bandbreite seines Geistes und seiner Kenntnisse aufnehmen können. 

Was Dichtung und Dramatik angeht, kann im Grunde nur Friedrich von Schiller als sein Gegenpart auf gleicher Ebene gelten; nur, dass Schillers Leben leider mit nicht einmal vierzig Jahren erlosch. 

Was die Naturwissenschaften angeht, kommen nur wenige deutsche Forscher und Gelehrte an die Bandbreite an Gebieten heran, in denen Alexander von Humboldt unterwegs war - Geologie, Geographie und Geometrie, Botanik, Biologie und Ethnologie... 

Doch es ist allein Goethe, der sowohl in den Geistes- als auch den Naturwissenschaften zu Hause war und es fertigbrachte, das Wissen und Können, das er im Lauf seines Lebens in den immensen Speichern seines Gehirns anhäufte, jederzeit anzuwenden und scheinbar mühelos zwischen der geistig-immateriellen und der gegenständlich-materiellen Welt zu pendeln.

Was bei dem alles überstrahlenden Nimbus von Goethe als Dichterfürsten und Universalgenie meist übersehen wird, obwohl es aus seinen Tagebüchern, seiner Briefkorrespondenz mit Gleichgesinnten und seinen biographischen Aufzeichnungen deutlich und eindringlich hervorgeht: 

Bis kurz vor seinem vierzigsten Lebensjahr wurde er von Krisen, massiven Selbstzweifeln und einer Serie unglücklich endender Liebesbeziehungen heimgesucht. Es ging ihm um die existenzielle Frage, wohin sein Weg ihn in letzter Konsequenz führen sollte: in das solide, gutbürgerliche Dasein eines Ministerialbeauftragten und Sonderbotschafters des Herzogs von Sachsen-Thüringen oder in das ungesicherte, den Launen des Publikums und des Zeitgeistes ausgesetzte Leben als Dichter und Dramatiker.

Obwohl ihm Carl August, sein Mäzen und Gönner zu Weimar, das Verweilen und den Verkehr in beiden Sphären gestattete, haderte Goethe mit der Frage, was für ihn der richtige Weg war. Und es war ausgerechnet die am längsten anhaltende und von ihm ernster als alle anderen gemeinte Liebe zu Charlotte von Stein, zu der er sich vor den Augen der Gesellschaft, in der er verkehrte, nie öffentlich vor aller Welt bekennen durfte. 

Und in ihm lebte eine Sehnsucht, geschürt und genährt von seinen engsten Vertrauten und Mentoren Herder und Wieland, das Land der klassischen Antike, von dem seit seiner frühen Jugend fast jeder halbwegs gebildete Deutsche träumte, wirklich und leibhaftig kennenzulernen: Italien und vor allem Rom. Eine Sehnsucht, die in ihm von Jahr zu Jahr wuchs und ihn mehr und mehr umtrieb....

Bis er sich am 3. September 1786 von der Weimarer Hofgesellschaft, von der nach Abreise des herzoglichen Ehepaares und der Frau von Stein außer Goethe nur das Ehepaar Herder noch ein paar Tage zur späten Sommerfrische in Karlsbad blieb, buchstäblich bei Nacht und Nebel davonstahl. 

Nur mit dem Anzug, den er auf dem Leib trug, und einem kleinen Koffer mit wenig Gepäck darin machte Goethe sich um drei Uhr auf zur Poststation und ging auf große Fahrt Richtung Süden, dem Land entgegen, dem seine Sehnsucht galt.

    "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
    im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
    ein milder Wind vom blauen Himmel weht,
    die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?"


Aus heutiger Sicht dauerte allein die Reise von Karlsbad bis zu seiner ersten Station Verona eine Ewigkeit. 13 Tage lang war er mit der Postkutsche unterwegs, blieb aber in Verona und Vicenza nur insgesamt fünf Tage, bis er nach Venedig weiterreiste, das ihn so faszinierte, dass er ganze 16 Tage blieb. 

Wenn ihn Venedig derart gefesselt hat, dass es ihn so lange davon abhielt, seinem eigentlichen Ziel Rom entgegen zu streben (wofür ich durchaus Verständnis habe), frage ich mich, weshalb Florenz ihn nicht zu halten vermochte. Ausgerechnet die Stadt, die genauso von und mit den bildenden Künsten lebt wie Venedig und Rom, und die im 15. und 16. Jahrhundert noch ernsthafter und nachhaltiger als die beiden vorgenannten Städte daran ging, in seinen Bauten, Statuen und Gemälden den Geist der klassischen Antike neu aufleben zu lassen!

Was hätte gerade einer wie Goethe, der sich in Rom, Neapel und Sizilien bei jeder Säule und jeder Statue aufhielt und seine Betrachtungen anstellte, im Dom von Florenz, in den Palästen der Medici und anderer Adelsfamilien und in den Sälen und Gewölben der Uffizien für Schätze mitnehmen können!

Aber nein, Goethe ist an einem einzigen Tag durch Florenz geeilt und hatte nur noch Rom im Sinn, das er nach 26 Tagen Geruckel und Geschaukel in einem klapprigen Einspänner am 1. November 1786 erreichte.

Zu Beginn der Fastenzeit nach Ende des römischen Karnevals, d.h. am 22. Februar 1787, brach er gemeinsam mit dem Maler, Graphiker und Kunstförderer Tischbein nach Neapel auf. Zwar blieb er dort nur knapp einen Monat lang, bekennt aber, dass es die Stadt an den Hängen und zu Füßen des Vesuv war, die ihm erst die Augen und alle Sinne in vollem Umfang für das Leben im Süden Europas geöffnet hat.

Schließlich reiste er mit dem Küstenkutter von Neapel weiter nach Sizilien, wo er sechs Wochen lang die Insel durchquerte und noch viel mehr Überreste aus der Zeit der klassischen Antike als in Rom vorfand. Trotz der grandiosen, eindrucksvollen Landschaften und der vielen Tempelruinen, die er eingehend studierte, blieb er in Sizilien nur einen Monat und zehn Tage und kehrte dann noch einmal nach Neapel zurück, wo er weitere sechs Wochen lang in Tischbeins Gesellschaft als Gast des Hofrats von Reitzenstein und des Fürsten Lucchesini verweilte.

Am 8. Juni 1787 kehrte Goethe ohne Tischbein, der in Neapel zu bleiben und zu wirken gedachte, nach Rom zurück. Doch nun bekam er über Angelika Kauffmann, die ihn in die Kreise einführte, die seinen Anlagen und Bedürfnissen entsprachen, gleich drei deutschsprachige Maler und Bildhauer an die Hand, die ihn bereitwillig und gründlich unterrichteten. Fortan machte er sowohl in den bildenden Künsten als auch in seinen dramatischen Werken rasche Fortschritte. Zwei Singspiele und seinen Egmont schloss er ab und sandte seine Werke nach Weimar, und zum Torquato Tasso und zur Iphigenie auf Tauris entstanden erste Entwürfe.

Und so wurde er in einer der kreativsten, vielseitigsten und fruchtbarsten Abschnitte seines Lebens ganze neun Monate lang in Rom sesshaft, bis er im April 1788 schweren Herzens und sehnsuchtskrank nach Weimar zurückkehrte.

Uns Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts, die wir in zwei Stunden von München nach Rom fliegen oder klimaschonend mit dem Brenner-Express über Nacht die Alpen überqueren, von zwei Uhr bis fünf Uhr morgens in Verona Halt machen, um 8:30 Uhr Venedig und gegen 14:30 Uhr Rom erreichen, erscheint die Reise mit der Postkutsche oder im Küstenkutter heutzutage wie ein Dahinkriechen im Schneckentempo; und während wir heute sehr bequem, da gut gepolstert und gefedert unterwegs sind, war das ewige Schlagen und Stoßen der Radachsen einer Kutsche für die Reisenden früherer Zeiten eine körperlich anstrengende Strapaze.

Dafür aber geht uns durch die extrem hohe Geschwindigkeit, mit der wir unterwegs sind, der Blick für die Landschaften und Gegenden verloren, die uns umgeben. Von den unterschiedlichen Formen und Beschaffenheiten des Bodens und des Gesteins der Berge, vom Anblick der Vegetation und ihren Aromen nehmen wir kaum etwas wahr; es wird uns nicht einmal mehr bewusst, was für eine immense Masse an Land wir auf dem Weg von München nach Rom überqueren, wenn wir darüber hinweg fliegen.

Doch wenn ein Vierergespann oder später ein miserabel gefederter Einspänner in gemächlichem Schritt durch die Gegend ruckelt und schaukelt, dann werden Wiesen und Felder, Berge und Wälder samt der Flüsse und Wasserfälle zu Begleitern, die den Weg säumen; dann erlebt man mit geradezu minutiöser Genauigkeit, wie sich die Umgebung zu verändern beginnt bzw. im Lauf einer Tagesreise verändert hat. 

Bemerkenswert an Goethe ist, dass er den Landschaften und Städten, die er erkundet, nicht primär als Wissenschaftler begegnet, auch wenn er später seine Beobachtungen und Vergleiche festhält und katalogisiert. Wenn er unterwegs ist, kann man ihn mit einem wandelnden Radar vergleichen, das alle Eindrücke auffängt und sich von ihnen durchströmen lässt. 

Ob es um die Beschaffenheit von Böden und Gestein geht, um die natürliche Vegetation, die in einer Gegend wächst und die Feldfrüchte und Baumplantagen, die bewusst und gezielt angepflanzt werden, um die Vermächtnisse der klassischen Antike in Gestalt von Statuen, Säulen, Torbögen und Tempeln, um die Menschen, die auf den Straßen und Plätzen einer Stadt ihren Beschäftigungen nachgehen - Goethe registriert alles, ihm ist alles gleichermaßen wichtig und bedeutsam, und nur selten geschieht es, dass er etwas gering schätzt oder gar abwertet; meist nur, wenn es auf irgendeine Weise seinen Sinn für Ästhetik stört.

Genau das macht die Italienische Reise auch für die Leserin und den Leser der heutigen Zeit noch genießbar: Hier schildert einer alles, was ihm begegnet, voll hellwacher Neugier und mit spürbarem Genuss. Und weil er mit dem, was ihm begegnet, überwiegend einverstanden ist, durchdringt eine tiefe Ruhe und Gewissheit seine Sprache, die sich dem Lesenden mitteilt; zumindest erging es mir beim Lesen so.

Durch seine Eindrücke, die Goethe notiert und hinterher als Italiensche Reise zusammengefasst hat, scheint immer wieder der Begriff des sinnlichen Wahrnehmens und Erlebens hindurch. Auch wenn ihm seine Pilgerfahrt durch Italien und sein Aufenthalt in Rom zu einer Quelle mannigfaltiger Erkenntnisse wurde, die sich zu geistigen Formen verdichteten, war Goethe doch überwiegend mit den Sinnen unterwegs. Dass er aus Sinneseindrücken allgemein gültige Gesetze der Ästhetik und des Werdens und Seins ableitete, ist der an den Naturwissenschaften geschulte Fähigkeit seines Geistes geschuldet, das Wahrgenommene zusammenzufassen, es einzuordnen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Doch ebenso, wie Goethe immer wieder betont, dass sich sein Erkennen primär über seine Sinne vollzieht, stellt er auch deutlich und wiederholt klar, dass die Reise durch Italien und sein Aufenthalt in Rom sein Weg der Läuterung und der Erkenntnis war und dass es ganz und gar nicht in seiner Absicht lag, in Stein gemeißelte Lehren für die Menschheit aufzustellen und zu verkünden. 

Goethe ist während der gut anderthalb Jahre, die er in Italien zubrachte, etwas widerfahren, das nur wenigen Reisenden vergönnt ist: dass die Wirklichkeit, die er vor Ort vorfand, sich mit dem deckte, was er sich vorher jahrzehntelang vorgestellt und erträumt hatte; dass er fand, wonach er gesucht hatte und in seinen Erwartungen kaum enttäuscht wurde.

Er verschweigt nicht, dass dies mit einem hohen Maß an Umlernen und Neu-Lernen einherging, das ihm nicht immer leicht fiel. Doch stets überwog der Gewinn, den er aus seinen Erlebnissen und Begegnungen zog, der ihm bleiben und nach seiner Rückkehr nach Weimar bis ans Ende seines Lebens in ihm nachhallen sollte.

Und während seiner Zeit in Rom, Neapel und Sizilien wurde ihm eindeutig klar - zum Glück für das Erbe der Menschheit und für Generationen deutscher Scbülerinnen und Schüler auch ein wenig zum Fluch -, dass sein Dasein fortan das eines Dichters und Dramatikers sein würde.
 



10.09.2023 - Faszination Venedig - Totgesagte leben länger
In meinem nächsten Artikel möchte ich von jener Stadt erzählen, die seit ihrer Gründung um 660 n. Chr. mit schöner Regelmäßigkeit als dem Untergang geweiht deklariert wurde und sich dennoch bis heute buchstäblich über Wasser gehalten hat; von jener Stadt, die seither als Modell für andere europäische Städte herhielt, die gleich ihr auf hölzernen Pfählen und Fundamenten am und im Meer errichtet wurden. Kraft ihrer intensiven Handelsbeziehungen zu den Nationen rund um die Küsten des östlichen Mittelmeers und zum Nahen und Fernen Osten galt sie lange Zeit als reichste Handelsstadt Europas, bis die Osmanen die Türkei und Kleinasien besetzten und mit dem Wegezoll, den sie fortan verlangten, den Seeweg in den Orient horrend teuer machten - und bis portugiesische Seefahrer den Weg rund um Afrika herum entdeckten, und Kolumbus aus Versehen sogar einen neuen Kontinent... Obwohl seit dieser Zeit der Glanz und Einfluss dieser Stadt zu schwinden begann, war und blieb sie eine unabhängige Republik, die sich selbst regierte, bis Napoleon sie 1797 unterwarf und in der dreisten und brutalen Manier des Siegers und Eroberers die alteingesessenen Adelsgeschlechter von einem Tag auf den anderen ihrer Rechte und ihres Einflusses beraubte und es der Bevölkerung sogar verbot, sich in ihrem ureigensten Element zu zeigen, das ihr seit jeher gehörte - in den Kostümen und Masken des Karnevals. Von einem Tag auf den anderen war ihre Macht und ihr Einfluss dahin. Wie von einem gewaltigen Schlag betäubt, scheint seither in dieser Stadt buchstäblich die Zeit stehengeblieben zu sein - und doch regt sich in ihr immer noch das Leben mit seinen Wundern, Abgründen und Geheimnissen....


Faszination Venedig - Totgesagte leben länger


In meinem nächsten Artikel möchte ich von jener Stadt erzählen, die seit ihrer Gründung um 660 n. Chr. mit schöner Regelmäßigkeit als dem Untergang geweiht deklariert wurde und sich dennoch bis heute buchstäblich über Wasser hält; von jener Stadt, die seither als Modell für andere europäische Städte herhielt, die gleich ihr auf hölzernen Pfählen und Fundamenten am und im Meer errichtet wurden.

Kraft ihrer intensiven Handelsbeziehungen zu den Nationen rund um die Küsten des östlichen Mittelmeers und zum Nahen und Fernen Osten galt sie lange Zeit als reichste Handelsstadt Europas, bis die Osmanen die Türkei und Kleinasien besetzten und mit dem Wegezoll, den sie fortan verlangten, den Seeweg in den Orient horrend teuer machten - und bis portugiesische Seefahrer den Weg rund um Afrika herum entdeckten, und Kolumbus aus Versehen sogar einen neuen Kontinent...

Obwohl seit dieser Zeit der Glanz und Einfluss dieser Stadt zu schwinden begann, war und blieb sie eine unabhängige Republik, die sich selbst regierte, bis Napoleon sie 1797 unterwarf und in der dreisten und brutalen Manier des Siegers und Eroberers die alteingesessenen Adelsgeschlechter von einem Tag auf den anderen ihrer Rechte und ihres Einflusses beraubte und es der Bevölkerung sogar verbot, sich in ihrem ureigensten Element zu zeigen, das ihr seit jeher gehörte - in den Kostümen und Masken des Karnevals. 

Von einem Tag auf den anderen war ihre Macht und ihr Einfluss dahin. Wie von einem gewaltigen Schlag betäubt, scheint seither in dieser Stadt buchstäblich die Zeit stehengeblieben zu sein - und doch regt sich in ihr immer noch das Leben mit seinen Wundern, Abgründen und Geheimnissen....

Vor kurzem gab es auf 3sat im Abendprogramm eine musikalische Soirée, die von der amerikanischen Sopranistin Renée Fleming begleitet und kommentiert wurde. In Venedig und Paris traf sie sich mit Kolleginnen und Kollegen und sang teils solo, teils gemeinsam mit ihnen im Gran Teatro La Fenice und in der Opéra Garnier Arien von Monteverdi, Bellini, Verdi und Puccini. 

Als ich unerwartet den unverkennbaren spitzen Winkel der Dogana an der Einfahrt zum Canal Grande und die Umrisse des Markusdoms, des Campanile und des Dogenpalastes wiedersah, die sich scharf und klar wie eh und je gegen die tiefstehende Sonne und die goldglitzernde See abhoben, erfasste mich mit einem Mal die jähe Sehnsucht, all dies noch einmal zu sehen und zu erleben. 

Es ist über zwanzig Jahre her, seit ich zuletzt in Venedig war; aber die Serenissima hat tiefe Spuren in meinen Erinnerungen hinterlassen, die sich seither hin und wieder geltend gemacht haben. Nicht etwa das Morbide und Todessüchtige, wie jene denken mögen, denen als erstes Thomas Manns Novelle Tod in Venedig oder Nicholas Roegs Film Wenn die Gondeln Trauer tragen einfällt. Vielmehr hat sie mir einst als junger Erwachsener die Augen über das zeitlos und unvergänglich Schöne und Wundersame aufgetan, wofür ich ihr auf ewig dankbar sein werde.

Warum eigentlich? Was ist dran an dieser Stadt, der die Menschheit nie lange Überlebenschancen eingeräumt hat - ein paar schlammige, sumpfige Inseln, um die herum Abertausende von Eichen- und Eschenpfählen in den Meeresgrund gerammt wurden, um auf ihnen erst hölzerne, dann steinerne Plattformen anzulegen, auf denen alle Paläste und Kathedralen errichtet wurden? Tausend Mal hieß es, eine auf solch fragilem Grund erbaute Stadt müsse eines Tages versinken oder von einer Sturmflut weggespült werden. 

Tatsache ist, dass das Mittelmeer mit seinen Gezeiten das lebendige Herz Venedigs verkörpert, wenn es mit seinem ewigen Wechsel von Ebbe und Flut das Wasser der nördlichen Adria zweimal am Tag in die Stadt hinein und wieder aus ihr heraus spült, und auch seine Lebenadern bildet, den Canal Grande und all die größeren und kleineren Seitenkanäle, auf denen sich in dieser Stadt der Verkehr abspielt. 

Gewiss gehört das ewige Hin und Her und Kommen und Gehen des Verkehrs zu jeder Stadt und bedingt ihr Leben; doch die schwimmenden Linienbusse der Vaporetti, die Lastenkähne, Wassertaxis und Motorboote und nicht zuletzt die Gondeln und Traghetti, die von früh bis spät die Kanäle hinauf und hinunter pflügen, erschaffen gemeinsam den Eindruck schwebender, schwereloser Leichtigkeit; alles scheint mal mit, mal gegen den ewigen Strom der Gezeiten zu fließen und zu gleiten.

Doch dasselbe Element Wasser, das die Stadt am Leben erhält und ihr Leben ermöglicht, bedroht und gefährdet sie auch. Unablässig nagen und saugen die glucksenden, lappenden Wellen an den Pfählen und Fundamenten, so dass von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang überall kleine Truppen von Spezialisten zugange sind, die an irgendeinem Kanal die Pfähle, Plattformen und Grundmauern ausbessern und verstärken. 

Wären sie nicht ständig am Werk, gäbe es Venedig wohl tatsächlich schon lange nicht mehr; und doch sieht man bei jedem genaueren Blick von einer Brücke und bei jedem Spaziergang und jeder Fahrt entlang der Kanäle, wie nass, bröcklig und modrig die Pfähle, Plattformen und Grundmauern sind, auf denen die Paläste und Kathedralen der Stadt stehen. Überhaupt steigt einem aus manchem kleinen und trägen Seitenkanal der Geruch von Unrat, Fäulnis und Moder zuweilen recht unangenehm in die Nase.

Man braucht nicht erst die Bilder vom davonschwimmenden Markusplatz zu sehen, die sich Ende Oktober/Anfang November einstellen, wenn das Acqua Alta der nördlichen Adria gemeinsam mit dem Scirocco von Süden her mit aller Macht stadteinwärts drückt, um zu erkennen, wie real und greifbar die Bedrohung ist, die vom Meer ausgeht. 

Andererseits: Wenn man im Bahnhof Sta. Lucia den Zug verlässt und den nächstbesten Vaporetto besteigt, der nach San Marco fährt, weht einem immer eine frische Brise um die Nase, in der keine Spur von Fäulnis und Moder liegt; und nichts könnte anregender sein als die Fahrt auf dem blaugrünen sonnendurchfluteten Meer außen um die Sestieri herum und dann dem Molo mit den Säulen von San Marco und San Todaro entgegen...

Und liegen im Frühjahr und Sommer Molo und Markusplatz groß, weit und trocken vor den Augen und Füßen der Besucherinnen und Besucher aus aller Welt, stellen sie - abgesehen von der Arena di Verona - die vielleicht schönste Freiluft-Kulisse der Welt für die Ouvertüren und Opernmelodien, die vom Florian und San Marco über den Platz tönen...

Tausend Mal hatte die Welt den Eindruck, jetzt sei es soweit, jetzt stünde der Untergang unmittelbar bevor. Und dennoch steht Venedig noch heute auf seinen Pfählen und Plattformen, die den Boden, über den man geht, hohl tönen und leise schwingen lassen...

Die Einzigartigkeit der Lagunenstadt erschließt sich am eindrucksvollsten, wenn man sich zu den Fondamenti Nuove im Norden der Stadt begibt, von dort mit dem Vaporetto der Linie 12 auf Rundfahrt nach Murano, Burano und Torcello geht und auf dem Rückweg den Molo von San Marco ansteuert; ein Ausflug, der am Vormittag beginnt und abends nach Sonnenuntergang endet.

Auf der Fahrt sieht man nicht nur die von mir genannten Inseln, sondern unzählige kleine Eilande, die bereits halb versunken sind. Doch was sich von ihnen über den Meeresspiegel erhebt, trägt heute noch ein Stück grüne Wiese und ein paar Bäume, deren Laub beweist, dass sie nach wie vor leben; und auf manch einer halbversunkenen Insel erheben sich immer noch die Überreste einer Mauer oder eines Turms, die beweisen, dass hier einst Menschen gelebt haben.

Hat man die Kunst der Glasbläser auf Murano und die bonbonbunten Legohäuschen auf Burano gebührend bewundert und den Seeblick ausreichend genossen, und kehrt man nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Vaporetto zurück, taucht scheinbar aus dem Nichts ein Meer von Lichtern auf, die in warmem Orangerot glimmen. Es entsteht der Eindruck, als steuere man auf eine Fata Morgana zu, die nicht wahr sein kann: eine Stadt, die dem Meer entsteigt und einem still und schwerelos entgegen treibt...

Wieso und auf welche Weise die Serenissima mir die Augen für das Schöne geöffnet hat? Um dies nachzuempfinden, sollte man bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zwischen dem Molo von San Marco, der Insel San Giorgio Maggiore und den Landspitzen von La Giudecca und Santa Maria della Salute unterwegs sein.  

Wenn die Sonne aufgeht, taucht sie die Kuppeln, Türme und Säulenportale der Kathedralen in einen rosigen Schein, streut abertausend Diamanten über die stille See und lässt sie in zarten Perlmutt-Farben mal grau, mal rosig, mal lichtblau schimmern; und wenn sie allmählich höher am Himmel emporsteigt, fügt sie den je nach Lichteinfall blauen oder grünen Fluten einen Goldstich bei, den ich nirgendwo sonst gesehen habe. 

Jene zarten Perlmutt-Töne und das golddurchflutete Türkisblau und Maigrün haben Generationen von Malern und Designern eingefangen, so dass einem diese Farben in den Kathedralen und Palazzi wie auch in den Polster- und Kleiderstoffen immer wieder begegnen und einem mit ihrer Schönheit das Herz im Leib aufgehen lassen.

Geht die Sonne unter, verwandelt sie Himmel und See in eine lodernde Symphonie aus Feuer und Gold, gegen die sich die Umrisse der Landspitzen, Kuppeln und Türme schwarz und zugleich gestochen scharf abheben. Etwas später, wenn sich die blauen und schwarzen Schatten der Nacht über die Stadt senken, flammen auf den Brücken und an den Uferbefestigungen die gusseisernen Straßenlaternen mit ihren runden oder zylindrischen Lampenschirmen auf. 

Waren die Umrisse scharf und klar, solange sich die Strahlen der Sonne noch blicken ließen, machen sich jetzt die weichen runden Bogengänge und Säulengalerien der Paläste geltend. Jenes orangene Licht der Straßenlaternen nimmt den Goldschimmer auf, der über der abendlichen Stadt liegt, wirkt aber nie blendend und grell, sondern umschmeichelt und verzaubert das Auge.

Bei Anblicken wie diesen begreift man, woher Bellini, Tiepolo oder Tizian die Brillianz ihrer Farben und ihren Umgang mit Licht und Schatten nahmen, und die Farb- und Lichtimpressionen, die ihnen umsonst geboten wurden und die sie auf ihrer Leinwand verewigt haben. 

Und wo Licht und Schatten auf solche Weise mit Konturen spielen, sie auflösen oder hervorheben, erschließen sich dem Betrachter auch die Skulpturen von Antonio Canova, dem es beinahe gelungen ist, Marmor atmen und pulsieren zu lassen, so lebendig und weich schimmert das Spiel der Muskeln und Sehnen, fließen die Bewegungen seiner Gestalten. 

Da Venedig nicht auf Erdreich gebaut ist, wächst dort nichts aus dem Boden heraus; alles, was sich hier Pflanze nennt, steht in einem Topf oder Trog. Dennoch sieht man, wenn man mit dem Vaporetto oder - Glückspilz, wer es sich leisten kann - der Gondel den Canal Grande hinauf oder hinunter fährt, auf den Dächern vieler Paläste Gärten mit Fächerpalmen, Orangen- und Zitronenbäumen und blühendem Oleander, während hinter den fein ziselierten Fassaden der säulengestützten Balkone Lichter glimmen und die Nacht mit ihrem Schein erhellen.

Nicht zuletzt sind es die Gondeln, lang, schmal und schwarz, die zum unverwechselbaren Gesamtbild der Stadt beitragen. Natürlich kommen sie am besten zur Geltung, wenn sie lautlos durch die Kanäle gleiten. Doch wenn man sie einmal still an ihrem Poller liegen sieht, erschliießt sich dem Betrachter die grazile, vollendete Eleganz ihrer Form. Und wartet eine Reihe von ihnen am Molo von San Marco oder an den Fondamenti Nuove auf Kundschaft, scheinen sie ein geheimes Eigenleben zu führen, wenn ein hellebardenähnlicher Bug nach dem anderen unter der durchlaufenden Welle hüpft und tänzelt... Wenn eine Gondelfahrt, auch nur für eine Stunde, nur nicht solch ein teurer Spaß wäre!

Abhilfe schaffen die Traghetti, die kleineren, etwas breiteren Schwestern der Gondeln, die pro Überfaht nur fünf Euro kosten. Am besten lässt man sich vom Anleger von La Giudecca zum Molo übersetzen, was länger dauert als nur einmal quer über den Canal Grande, so dass man zumindest für kurze kostbare Zeit das sanfte, weiche, lautlose Gleiten zu spüren bekommt, das eine Fahrt mit der Gondel auszeichnet.

Einen Aspekt, der Venedig komplett macht, darf ich natürlich nicht versäumen: die Musik. In unserer Zeit ist es hauptsächlich der Komponist Gian Piero Reverberi, der im Bewusstsein der Öffentlichkeit die Erinnerung an Bellini, Scarlatti und Vivaldi wach hält, die großen Meister der Generalbasszeit.

Dass er in seinen Kompositionen E-Gitarren und Schlagzeug als rhythmische Untermalung einsetzt, mag manch einem Puristen der klassischen Musik als seicht und geschmäcklerisch erscheinen; doch den Klangstrukturen und Rhythmen der Generalbasszeit, die vom Ende des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts dauerte, ist er treu geblieben. Und in sein Rokoko-Orchester, das unter dem Namen Rondó Veneziano weltweit bekannt ist, nimmt er nur Musiker auf, die an einem Konservatorium mit Erfolg studiert haben, d.h. mit den Grundlagen der ernsten Musik vertraut und anerkannte Meister ihres Instruments sind.

Mögen Schlagzeug und E-Gitarre seinem Sound auch etwas Poppiges verleihen: In den Werken, die Reverberi mit seinem Ensemble zu Gehör bringt, kommen Instrumente zur Geltung, die sonst  zu Unrecht in Vergessenheit geraten wären, wie zum Beispiel die Bachtrompete und vor allem die Oboe. 

Da die Bachtrompete aus Zinn und Silber besteht, klingt sie heller, leichter und kühler als die uns vertraute Trompete aus Messing. Ich möchte ihren Klang mit Champagner vergleichen, der in einem Sektglas schäumt und perlt. Klingt sie auch nicht so kraftvoll und rund wie ihre jüngere Verwandte aus Messing, liegt auch in ihren Tönen derselbe Sieg und Triumph, den wir mit dem Klang der Trompete an sich verbinden.

Und in keinem anderen Instrument verkörpert sich die Seele der Serenissima so eindrucksvoll und ergreifend wie im klaren und zugleich nasalen Klang der Oboe. Sie klingt weicher und runder als die Quer- oder Piccoloflöte, aber heller und klarer als die Klarinette, kann heiter plaudern und nur einen Atemzug später voll unendlicher Wehmut klagen. Leicht und schwerelos perlen und tänzeln ihre Kaskaden durch die Lüfte, um beim Tonartwechsel von Dur nach Moll aus unendlich weiter Ferne über die See zu hallen und einen Atemzug später klar und rein zum Licht empor zu steigen...

Um den besonderen Zauber dieses Instruments zu ermessen, empfehle ich, sich einmal auf Youtube Ennio Morricones Instrumentalstück Gabriels Oboe aus dem Film Die Mission anzuhören, das er 2007 gegen Ende seines Peace Notes-Konzerts auf dem Markusplatz spielen ließ. Wenn Reinheit, Schönheit und Frieden einen Klang haben, dann ist es dieser!
 



10.09.2023 - Faszination Archäologie - Meroe und die Königsstadt Naga
Was mich seit langem schon begleitet Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Neben den kulinarischen Genüssen aus aller Welt, die auf mich eine geradezu magische Anziehungskraft ausüben, gibt es Phänomene, in denen sich der Geist des Menschen teils sichtbar und greifbar, teils zumindest lesbar verewigt hat und die mich locken und beschäftigen, seit ich denken kann. Es sind ihrer Art und ihrer Atmosphäre nach sehr unterschiedliche Impressionen, die eines gemeinsam haben: dass sie sich während der letzten acht Wochen besonders eindringlich in meinen Erinnerungen gemeldet haben, als forderten sie, dass ich mich ihnen gerade gleichwertig und gleichberechtigt zur Verfügung stelle und ihnen meine Feder oder eher die Tastatur meines PCs leihe. Meine neue Artikelreihe möchte ich mit der Faszination eines alten Phänomens beginnen, das gerade in unseren Tagen still, beharrlich und geduldig Neues, bisher Unbekanntes zu Tage fördert; danach von einer Stadt erzählen, die seit ihrer brachialen Eroberung durch Napoleon in sich selbst versunken ist, seither unzählige Male als dem Untergang geweiht deklariert wurde, aber sich buchstäblich bis heute über dem Wasser gehalten hat; und mich schließlich zwei großen Geistern zuwenden, die weit gereist sind, viel erlebt haben und die tiefgreifenden Erlebnisse und Erfahrungen, die ihnen auf ihren Reisen zuteil wurden, der Nachwelt als besonderes Vermächtnis hinterlassen haben.


Faszination Archäologie - Meroë und die Königsstadt Naga
 

Während das ZDF-Format Terra X sich von 2000 bis 2015 auf die Darstellung historischer Epochen und bedeutender Persönlichkeiten konzentriert hat und heute die Erscheinungen und Phänomene der Welt beleuchtet, die uns umgibt, befasste es sich in den 1980er und 1990er Jahren mit den Rätseln erloschener Hochkulturen, die damals mangels technischer Möglichkeiten und (Er)Kenntnisse noch nicht gelöst bzw. nachgewiesen waren.

In der Dreiviertelstunde, in der Terra X am Sonntagabend von 19:30 bis 20:15 auf Sendung ging und auch heute noch geht, saß ich in meiner Kindheit und Jugend immer gebannt vor dem Fernseher und lauschte der sonoren Stimme des Sprechers, die von unter Äonen der Menschheitsgeschichte begrabenen Welten raunte, die meilenweit von meinem Zuhause und meinem Erlebnishorizont entfernt lagen.

Von den neuesten Erkenntnissen über die Ausgrabungen von Troja, das eben nicht das Troja Homers war, für das Heinrich Schliemann es seinerzeit gehalten hatte; von den neu erschlossenen Bilderwänden, die man zuletzt in den Pyramiden im Tal der Könige zu Memphis gefunden hatte;  oder von der Suche nach dem versunkenen Atlantis, das man damals in der Ägäis verortet hat und von dem man meinte, es sei in Wahrheit der Teil der Insel Santorin, der sich bei jenem verheerenden Vulkanausbruch buchstäblich in die Luft sprengte und dann unter Feuer, Lava und Asche im Mittelmeer versank.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass europäische Entdecker und Forscher seit Mitte des 18. Jahrhunderts Kleinasien, die Steppen und Wüsten der Mongolei, die Gebirgspässe des Himalaya und den ganzen Kontinent Afrika durchkämmt und dabei eine Vielzahl an Schätzen vergangener Hochkulturen ans Licht gebracht haben, erscheint es geradezu erstaunlich, dass unsere Erde im Hinblick auf solche Schätze noch lange nicht erschöpft ist.

So fanden Taucher erst vor etwa einem Jahr in der Ostsee Überreste von Mauern und Hafenbefestigungen, von denen sie sicher sind, dass sie zu der reichen und mächtigen Handelsstadt Rungholt gehören, die bei der großen Flutkatastrophe von 1348, die in Norddeutschland als de grote Mandraenke in die Geschichte einging, auf Nimmerwiedersehen versank.

Seither haben Generationen von Seglern geschworen, dass man, wenn man über diesen Teil der Ostsee fährt, an klaren Tagen immer noch die Kirchturmspitzen und Wachttürme Rungholts sieht, die vom Meeresgrund emporragen. Nun weiß man, dass diese Stadt tatsächlich dort drunten liegt; doch auf Grund des regen Fährverkehrs auf der Ostsee und der dicht besiedelten Inseln, die dieses Gebiet umgeben, ist es bisher nicht möglich, die Überreste Rungholts zu bergen. 

Einfacher geht dies in einem anderen Teil unserer Erde vonstatten. Seit 2013 - sprich, seit nunmehr zehn Jahren - befördert ein Team von Archäologen im Sudan, etwa 180 Kilometer nordöstlich von der Hauptstadt Khartoum und vom Zusammenfluss des Blauen und des Weißen Nils entfernt, nach und nach die Überreste eines Königreichs ans Licht, von dem vorher kaum jemand Notiz genommen hat: Meroë, das Reich der Nubier. 

Die steinernen Löwen, Säulen, Giebelfronten und Mauern, die sie nach und nach freilegen, gehören zu der königlichen Residenzstadt Naga, die um 350 n. Chr. aus bisher noch ungeklärten  Gründen von ihren Bewohnern dem Untergang preisgegeben wurde und bis vor zehn Jahren unter Tonnen an Wüstensand und Geröll verborgen lag.  

Geleitet wird das Naga-Projekt von Dr. Arnulf Schlüter, dem Direktor des Staatlichen Museums ägyptischer Kunst (nachfolgend kurz SMÄK genannt) und seinem Chef-Archäologen Christian Perzlmeier, wobei ihnen noch einige Münchner Kollegen dabei zur Hand gehen - und eine Schar sudanesischer Helfer aus Khartoum und der Umgebung von Naga, die tagein, tagaus tonnenweise Geröll, Schutt und Sand entsorgen und die freigelegten Artefakte, die man hochheben und bewegen kann, für die anstehenden Untersuchungen vorsortieren und in Kisten packen.

Aktuell und noch bis zum 22. Oktober 2023 lädt das SMÄK Neugierige, Wissensdurstige und faszinierte Hobby-Archäologen ein, in einem dreidimensional eingerichteten Showroom im Kellergewölbe fast hautnah bei der Arbeit des Ausgrabungsteams und seiner Helfer dabei zu sein.

Allein das Gebäude des SMÄK, das an der Gabelsberger Straße gleich nach der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) folgt und noch im Museumsareal, aber etwas abseits der großen Pinakotheken liegt, ist beeindruckend. Vor dem Auge des Betrachters führt eine mächtige, imposante Treppe mit breiten Stufen hinab zum Haupteingang einer Wüstenfestung, wie man sie im Atlasgebirge und in der Sahara oft findet: ein in sich geschlossener, kompakter Quader aus gelblich-rötlichem Sandstein, aus dem auch die große Freitreppe besteht, und in dem nur wenige schmale Fenster zu sehen sind. Zu beiden Seiten des gläsernen Eingangsportals halten schlanke, grazil anmutende Anubis-Statuen Wache, hoch aufgerichtet und den Speer fest in der Faust.

Sobald sich die Flügeltüren des Eingangsportals schließen, herrscht ewiges Halbdunkel, als befände man sich im Inneren einer Pyramide. Am Service-Desk in der Mitte des Eingangsbereichs bekommt man die Eintrittskarte - 8 Euro kostet die Sonderausstellung für Erwachsene, 6 Euro bei Ermäßigung -, und einen Audioguide nebst zwei Kopfhörern. Und man braucht den Guide und die Kopfhörer, denn beides gehört zum Gesamtkonzept der Ausstellung. 

Während man sich seinen Audioguide umhängt und die Hörer auf die Ohren stülpt, steigt man über eine weitere Treppe noch gute zehn Meter tiefer unter die Erde, hinab in das Kellergeschoss des Museums, wo die Bilder der Ausstellung auf lebensgroße, leicht nach innen gewölbte Stelen projiziert und zu einem Rundgang angeordnet sind, der einen von München per Flugzeug in den Sudan befördert.

Jawohl, wenn man den kreisförmig angeordneten Ausstellungsraum durch das hohe Eingangstor betritt, hört man das Motorengeräusch des Flugzeugs, das in den Sinkflug übergeht und auf dem Rollfeld des Flughafens von Khartoum landet.

Von hier führt der Weg als erstes ins Hotel Elephant, das nicht nur das Münchner Projektteam zu Beginn seiner Expedition beherbergt hat, bis das Basecamp am Rand der Wüste errichtet und bezugsfertig war. Schon lange vor 2013 hatte dieses Hotel Entdecker und Forscher aus aller Herren Länder zu Gast, die sich von der Landeshauptstadt des Sudan aus einen ersten Überblick über die Arbeitsbedingungen und das Umfeld ihrer Expedition verschafft haben.

Dem Münchner Projektteam ist es seit 2013 gelungen, den kompletten Amun-Tempel von Naga freizulegen und zu rekonstruieren - ein Bauwerk, das in der Regelmäßigkeit seiner Proportionen und seiner Gliederung nicht anders als wundervoll bezeichnet werden kann und den Tempeln der alten Griechen in nichts nachsteht -, und zwei Reihen von Löwen, sozusagen eine Allee von Statuen, die vom Amun-Tempel zum Löwen-Tempel führen. Und genau diesen Löwentempel erschließen die Archälologen und Helfer nunmehr seit 2020, mit einer Zwangsunterbrechung von 2021 bis 2022 wegen Corona und zeitgleicher Unruhen im Sudan. 

Begonnen hat die Erschließung des "neuen" Tempels mit einer riesigen Löwenpranke, die Christian Perzlmeier und seine Leute nach und nach aus dem Wüstensand heraus buddelten. Er und sein Chef Dr. Schlüter schlossen messerscharf, dass zu der mächtigen Löwenpranke ein noch imposanterer Löwe gehören musste, was sich bewahrheitete. Und seither wächst nach und nach das riesige Säulentor, das ins Innere des Tempels führt, samt der umliegenden Mauern aus dem Wüstensand heraus.

Doch was heißt da: "wächst heraus"? In einem anderen lebensgroßen dreidimensionalen Bild sieht man einen von Perzlmeiers Kollegen, wie er auf einem Gerüst an einem Stück Mauer halb sitzt, halb hängt und mit Grabstichel und Pinsel vorsichtig Zentimeter um Zentimeter freilegt. 

Auch wenn sich dank modernster Laser-, Wärmebild- und Drohnentechnik viel deutlicher als früher erkennen lässt, was sich unter Sand und Schutt verbirgt, so dass man einen genaueren Plan von einer Anlage bekommt und Ausgrabungen schonender und bedächtiger durchführen kann als in früheren Zeiten, bedeutet Archäologie auch heute noch zeitaufwändiges, mühevolles, behutsames Picken, Klopfen, Schaufeln und Pinseln von kurz nach Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, was man vor diesem Bild unmissverständlich hören kann.

Und auch heute noch erfordert ein solcher Einsatz genaue Planung und Vorbereitung. Ist das Team erst einmal in die niedrige wallähnliche Sandstein-Festung des Basecamps eingezogen, muss es alles haben, was es während der aktuellen Grabungsphase braucht: Benzin und Ersatzreifen für die Jeeps, damit man in die Wüste hinein und auch wieder heraus kommt, genügend Wasser und Essensvorräte (Kaffee und Minztee sind für den Projektleiter und alle anderen das Lebenselixier an sich!), Werkzeug, Kisten und sonstiges Zubehör... All dies sollte man bei sich haben, wenn man ins Camp geht; denn sonst gibt es auf Hunderte von Kilometern nur die Stille, Weite, Ödnis und Einsamkeit des Gebel Naga und der Wüste.

Was einem eine solche Arbeit und der Aufenthalt in einer menschenleeren Einöde geben mag, die bis zum Horizont und darüber hinaus reicht? 

Da ist das grandiose Bild eines Sonnenuntergangs über der Gebirgskette des Gebel Naga, die im Widerschein der Abendsonne unter einem Himmel aus dunklem Gold in feurigem Rot aufflammt, während drunten im Tal bereits die Dunkelheit nistet. 

Und da ist nach Sonnenuntergang unter einem riesigen Mond ein unermesslich weiter, völlig klarer Nachthimmel, an dem alle Sterne und Sternbilder samt der Milchstraße gestochen scharf zu sehen sind, was in den Großstädten dieser Welt auf Grund der ständigen Beleuchtung bei Nacht so gut wie unmöglich geworden ist. 

Man hört das leise, sanfte Sausen des Nachtwinds, das Schwirren und Krabbeln von Insekten auf ihrer Wanderschaft durch die Dunkelheit, hin und wieder das Röhren eines Kamels, das fast dem Gebrüll eines Löwen ähnelt und doch wieder ein anderer Laut ist; und all dies hört man so klar und deutlich, weil sonst nichts zu hören ist. Hier draußen in der Wüste, umgeben von den Felszacken der Gebirgskette, herrscht eine tiefe, friedevolle Stille, die vom hektischen, geschäftigen Treiben der Menschen in den großen Städten dieser Welt nichts weiß; die für sich selbst steht und für nichts anderes.

Wohin das Ohr reicht, nichts als Stille, nur gelegentlich von dem einen oder anderen Geräusch unterbrochen; wohin das Auge reicht, nichts als das endlos weite, menschenleere Land. Doch es ist eine Stille und Weite, die in keiner Weise lähmt und beklommen macht; vielmehr lässt sie Geist und Seele wie von selbst zu einem tiefen Frieden kommen. Man braucht und will nichts weiter, als das Bild dieses Sonnenuntergangs bzw. dieses Nachthimmels tief in sich hinein trinken...

Zumindest mir ging es so, während ich durch die Ausstellung wanderte und bei den Bildern verweilte. Allein für diese Erfahrung hat sich der Besuch aus meiner Sicht gelohnt; und auch im Hinblick auf die zeitlose, von sicherem Sinn für Proportionen und Raumgliederung geprägte Schönheit der mächtigen Bauten einer versunkenen Hochkultur. 

Neben den Säulen, Dachgiebeln und Mauern der freigelegten Tempelanlagen sieht man an der Mauer eines Tempels das in den Sandstein gemeißelte Profil eines Menschen, dessen Wangen und Kinn glatt und ebenmäßig modelliert sind, so dass man nicht sagen kann, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Auch, dass dieses Gesicht mit kunstvoll gefertigten Ohrgehängen geschmückt ist, sagt noch nicht viel aus, denn in Meroë und Ägypten trugen sowohl Männer als auch Frauen Ohrschmuck. 

Was einen mehr und mehr in den Bann zieht, je länger man dieses Porträt in Stein betrachtet, ist der Ausdruck, der in diesem Antlitz verewigt ist: Die geschlossenen Augen und die vollen, leicht geöffneten Lippen zeigen eine stille aber intensive Hingabe, als lausche dieser Mensch entweder tief in sich selbst hinein oder einer Botschaft aus einer anderen Welt. Was auch immer sich ihm mitteilt, dieser Mensch saugt es vorbehaltslos und in tiefen Frieden versunken in sich auf.

Ohne Zweifel haben wir es bei den Nubiern aus Meroë mit einem Volk zu tun, das auf der gleichen hochentwickelten Zivilisationsstufe wie das alte Ägypten vor ihm steht. Nur, dass die Zeit der Nubier kam, als der Stern Ägyptens unaufhaltsam sank und erlosch: Das Reich Meroë bestand von etwa 350 v. Chr. bis 350 n. Chr., als Ägypten unter dem Einfluss Griechenlands zunehmend an Bedeutung und Einfluss verlor, bis es wenige Jahrzehnte vor der ersten Zeitenwende von Cäsars Truppen dem römischen Reich einverleibt wurde.

Auch wenn aus dem Stil der Tempelbauten und der Kleidung der Menschen, die auf den Wandreliefs dargestellt sind, deutlich hervorgeht, dass Meroë in seiner Kunst und Kultur eigene Wege ging, erkennt man auch, dass es von seinem Nachbarn im Norden einige prägende Elemente übernommen hat. 

Darauf weist vor allem die Tatsache hin, dass der Haupttempel von Naga "Tempel des Amun" heißt, des Sonnengottes, die höchste und am dauerhaftesten verehrte Gottheit Ägyptens. Auch sieht man an einem Wandrelief die Gestalt eines Königs, der mit dem Zepter in der Hand auf seinem Thron sitzt und eine gestreifte, weit ausgestellte Haube trägt wie vor ihm die ägyptischen Pharaonen. Nur, dass bei ihm über der Flügelhaube ein hoher Aufsatz angebracht ist, der Ähnlichkeit mit einem fein ziselierten Kerzenleuchter hat, und dass dieser Herrscher auch nicht den typischen langen geflochtenen Kinnbart der Pharaonen trägt, sondern glatt rasiert ist. 

Zwischen diesen beiden Nachbarn muss einst ein reger kultureller Austausch stattgefunden haben. Wir dürfen gespannt sein, was sich uns im Lauf der nächsten Jahre über die Kultur und Denkweise der Nubier und das Leben der Menschen im Reich Meroë erschließt...



30.04.2023 - Die Stadt
Wenn ich in meinem ersten Bericht über Dresden gesagt habe, dass die Neustadt vom klassizistischen Stil geprägt ist, stimmt das nicht zu hundert Prozent. Denn parallel zur Neustädter Hauptstraße verläuft eine stille Seitenstraße, deren Bauten eindeutig dem Barockzeitalter angehören, ebenso wie die Dreikönigskirche, deren mächtiges Schiff die Hauptstraße mit dem Barockviertel verbindet. Leider gelang es mir nicht, diese Basilika zu besichtigen, denn anders als in den westlichen Bundesländern sind im Osten die Kirchen tagsüber zugesperrt, solange dort kein Gottesdienst stattfindet; zumindest in Dresden ist dies der Fall. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass Dresden neben dem offiziellen Rathaus auch ein eigenes Kultur-Rathaus besitzt, und lernte als nächstes die Passagen des Handwerkerhofs kennen, lauschige Schlupfwinkel, die zu großen, hellen Innenhöfen mit Blumenbeeten führen und viele kleine Ateliers und Boutiquen bergen. Noch heute findet man hier eine große Auswahl an handgefertigten Waren, die anderswo längst nur noch im Massenbetrieb produziert werden. So zum Beispiel sind in einer Passage Postkarten, Briefkuverts und Servietten aus handgeschöpftem Papier ausgestellt; in der nächsten findet man die großen und kleinen, dicken und dünnen Erzeugnisse einer Kerzenzieherei; ihr gegenüber Decken, Deckchen und Läufer, deren Kanten mit Plauener Spitze oder Lochstickerei eingesäumt sind; nebenan wiederum tut sich neben Ölen, Kräutermischungen und Honigsorten aus Griechenland eine riesige Auswahl an Porzellan auf. Wobei man nahezu überall in Dresden daran erinnert wird, dass Meißen mit seiner berühmten Porzellanmanufaktur nur wenige Kilometer entfernt liegt, ebenso die nicht weniger renommierte Traditionsfirma Villeroy & Boch.


Die Stadt


Wenn ich in meinem ersten Bericht über Dresden gesagt habe, dass die Neustadt vom
klassizistischen Stil geprägt ist, stimmt das nicht zu hundert Prozent.

Denn parallel zur Neustädter Hauptstraße verläuft eine stille Seitenstraße, deren Bauten
eindeutig dem Barockzeitalter angehören, ebenso wie die Dreikönigskirche, deren mächtiges
Schiff die Hauptstraße mit dem Barockviertel verbindet.

Leider gelang es mir nicht, diese Basilika zu besichtigen, denn anders als in den westlichen
Bundesländern sind im Osten die Kirchen tagsüber zugesperrt, solange dort kein Gottesdienst
stattfindet; zumindest in Dresden ist dies der Fall.

Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass Dresden neben dem offiziellen Rathaus auch ein
eigenes Kultur-Rathaus besitzt, und lernte als nächstes die Passagen des Handwerkerhofs kennen,
lauschige Schlupfwinkel, die zu großen, hellen Innenhöfen mit Blumenbeeten führen und viele kleine
Ateliers und Boutiquen bergen.

Noch heute findet man hier eine große Auswahl an handgefertigten Waren, die anderswo längst
nur noch im Massenbetrieb produziert werden. So zum Beispiel sind in einer Passage Postkarten,
Briefkuverts und Servietten aus handgeschöpftem Papier ausgestellt; in der nächsten findet man die
großen und kleinen, dicken und dünnen Erzeugnisse einer Kerzenzieherei; ihr gegenüber Decken,
Deckchen und Läufer, deren Kanten mit Plauener Spitze oder Lochstickerei eingesäumt sind; nebenan
wiederum tut sich neben Ölen, Kräutermischungen und Honigsorten aus Griechenland eine riesige
Auswahl an Porzellan auf.

Wobei man nahezu überall in Dresden daran erinnert wird, dass Meißen mit seiner berühmten
Porzellanmanufaktur nur wenige Kilometer entfernt liegt, ebenso die nicht weniger renommierte
Traditionsfirma Villeroy & Boch.

Allein in den drei Passagen des Kunsthandwerkerhofs verbrachte ich geraume Zeit mit Schauen
und Stöbern.

Als ich der Hauptstraße weiter Richtung Goldener Reiter und Altstadt folgte, stieß ich erneut
auf das kleine Modeatelier, das mir schon letztes Jahr im Sommer aufgefallen war, weil die
Besitzerin das Brecht-Gedicht Bitten von Kindern an der Ladenfront mit Kreide auf eine
Schiefertafel gekritzelt hatte.

Sie muss Bertolt Brecht oder zumindest seine Gedichte wirklich lieben, denn diesmal stand
ein anderes Gedicht auf der Schiefertafel, das auch von ihm stammt:


            "Am Grunde der Moldau wandern die Steine.
            Es liegen 3 Kaiser begraben in Prag.

            Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine;

            die Nacht hat 12 Stunden, dann kommt schon der Tag.

            Es wechseln die Zeiten! Die riesigen Pläne
            der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.


            Und gehn  sie auch einher wie blutige Hähne:
            Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt!"

 

Während nach meinem Empfinden sowohl der Ton als auch der Inhalt der Bitten von Kindern aufbauend
und zuversichtlich herüberkommt, wehte mich aus den Worten, die ich diesmal las, das Unbehagen einer
latenten Drohung an.

Sie erinnerten mich an den bleigrauen, schweren, von blutigem Rot gesäumten Himmel, den man oft auf den
Gemälden sieht, die vom Ausbruch der Französischen Revolution handeln...

Ich riss mich von dem Brecht-Gedicht und dem Unbehagen los, das die Zeilen auf der schwarzen Schiefertafe
l in mir weckten, und ging weiter die Straße entlang, bis ich auf eine freistehende Villa aufmerksam wurde,
über deren Türfront in deutscher Frakturschrift Emils 1910 geschrieben steht.

Gewiss stammt der Briefkasten gleich neben der Eingangstür aus demselben Jahr, denn ein wellenförmiger
Jugendstil-Rahmen fasst seine Kanten ein. Doch auch er trägt dasselbe schwarze Signalhorn, das einst
an den Türen der Postkutschen der Fürsten zu Thurn und Taxis angebracht war und DAS bis heute unsere
Briefkästen und Packstationen ziert, auch wenn sie inzwischen DHL und nicht mehr Deutsche Post als
Namen tragen.

Ob der Name Emils mit dem Roman Emil und die Detektive zusammenhängt, kann ich nicht mit Gewissheit
sagen; auf jeden Fall klingelte mein siebter Sinn für das Außergewöhnliche…

Schon betrat ich die Café-Bar, auf deren Fensterbank eine formschöne schmiedeeiserne Nähmaschine thront
und deren reich bestückte Tortenvitrine daran erinnert, dass es in Dresden eine Kaffeehaus-Tradition gibt,
die mit den Städten der k.u.k. Donaumonarchie durchaus mithalten kann; sprich, mit Wien, Prag und Budapest.

Gestärkt von einer Gurken-Limetten-Limonade, einem sächsischen Kaffee mit einem Schuss Eierlikor auf dem
Grund des Glases, auf dem zur Krönung eine kleine Sahnehaube schwebt, und einer prachtvoll anmutenden u
nd lieblich schmeckenden Wiener Himmelstorte, erhob ich mich von meinem Ruheplatz, verließ das Lokal, sah
zufällig links um die Ecke - und blieb an den wehenden Fahnen der Markthalle aus dem Jahr 1899 hängen.

In mir erwachte die Erinnerung an die Pester Markthalle am Fövam tér nahe der Donau. War die Neustädter
Markthalle nur annähernd so stilvoll eingerichtet wie ihr Pendant in Budapest, stand es außer Frage,
wohin mich mein Weg als Nächstes führte...

Auch hier wurden meine Erwartungen nicht enttäuscht. Mit ihren schmiedeeisernen Galerien und Treppenaufgängen
ganz in Weiß und ihrem hohen, lichten Gewölbe im Souterrain ist die Neustädter Markthalle ein Wunder an
graziler, schwungvoller Leichtigkeit, in dem man gerne verweilt und sich umsieht, bei den Lebensmittel- und
Souvenirständen, im russischen Spezialitätenladen und an der Theke der ebenso gemütlichen wie exquisiten
Teeboutique im Erdgeschoss und bei den Antikmöbeln und Heimtextilien oben an der umlaufenden Galerie.

Als ich nach einem Rote-Beete-Chai Latte die Markthalle verließ, war ich von meinen Erkundungen bereits reichlich
"geplättet", so dass ich die Bautzener Straße bis zu Pfunds Molkerei zu Fuß nicht mehr schaffen würde; doch hier
handelt es sich um einen Laden, den man wirklich einmal gesehen haben sollte, wenn man in Dresden unterwegs ist.

Andererseits war Pfunds Molkerei einer der Haltepunkte der großen zweistündigen Stadtrundfahrt. Jetzt war es kurz
vor 16:00 Uhr; vielleicht schaffte ich es mit einem der City-Tour-Busse noch rechtzeitig dorthin...
Mein Stadtführer sagte mir, dass ich schleunigst zum Postplatz musste, gegenüber dem Cosel- und Taschenberg-Palais,
mit Blick auf das Grüne Gewölbe, das unübersehbar als riesiger runder Kuppelbau aus dem Residenzschloss herausragt.

Also trabte ich auf der Augustusbrücke zur Altstadt hinüber, so schnell mich meine Füße trugen, und traf sofort auf einen d
er Stände, an denen man sein Ticket für die zweistündigen Stadtrundfahrten lösen kann. Dem Rat der Verkäuferin folgend,
schlüpfte ich zwischen der Allerheiligen-Hofkirche und dem Fürstenzug hindurch, überquerte den Theaterplatz mit der
Semperoper und der Statue des Königs Johann, der sie in Auftrag gegeben hatte, und hielt auf den markanten Anbau
der Residenz mit seiner kupfergrünen Kuppel zu...

Und ich hatte Glück! Nicht nur, dass genau in dem Moment, als ich dort ankam, ein Tourbus mit geöffneten Türen bereit
stand: Da ich mein Ticket an einem Samstag nach 16:00 Uhr gelöst hatte, erwarb ich das Recht auf eine weitere
Stadtrundfahrt am darauffolgenden Ostersonntag!

Auf die Details der Stadtrundfahrt komme ich gleich noch ausführlich zu sprechen, aber an diesem Samstagabend
lockte mich erstens die Ruhepause für meine Füße und zweitens mein eigentliches Ziel.

Schließlich hielt der City-Tour-Bus um 17:30, eine halbe Stunde vor Ladenschluss, an der Bautzener Straße 79,
und es gelang mir, gemeinsam mit ein paar anderen Touristen durch den Haupteingang von Pfunds Molkerei
zu schlüpfen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag war ich geplättet, diesmal allerdings nicht vor Erschöpfung, sondern von dem
Anblick, der mir hier entgegenschlug. Denn wer nicht weiß, dass er "nur" in einem Milch- und Käseladen steht,
könnte glauben, in einem ausgelagerten Porzellankabinett Augusts des Starken gelandet zu sein, oder etwa
in einem Zweitwohnsitz, den sich ein portugiesischer Adeliger eingerichtet hat, der im frühen 18. Jahrhundert
nach Dresden zu Besuch kam und sich in die Stadt und ihre Kunstschätze verliebt habeh muss:

 

Die Wände, alle Mauervorsprünge, Erker und Nischen, selbst der Fußboden und die Decke bestehen
durchgängig aus quadratischen Porzellankacheln - es handelt sich um die Azulejo-Technik, die ich in
dieser Kunstfertigkeit und Vollendung sonst nur aus Portugal kenne - und sind ein Wunder an Anmut
und Schönheit in Blau und Gold auf weißem Grund.

Was für eine astronomische Summe mögen die Gebrüder Pfund den Schöpfern dieses Meisterwerks
bezahlt haben? Oder haben sie ihnen für jeden Besucher, der große Augen bekommt und staunt,
sobald er den Laden betriftt, einen Anteil an ihren Verkaufserlösen zugesichert?

Später, im Salon meines Hotels, feierte ich bei einem Glas Ur-Krostitzer, gefolgt von einem Schluck
Amarula-Likör, einen in jeder Hinsicht gelungenen Tag....

 

Geben Sie hier ihren Blogeintrag ein



30.04.2023 - Der Fluss
Es war noch früh am Nachmittag, als der City-Tour-Bus von seiner Rundfahrt in die Altstadt zurückkehrte und sich den Anlegern der Sächsischen Dampfschifffahrt an der Uferpromenade in einem gemächlichen Spaziergänger-Tempo näherte, bevor er die Endstation am Postplatz ansteuern würde. Morgen blieb mir nach dem Kofferpacken nur noch ein letztes genüßliches Frühstück am Buffet m eines Hotels, bevor ich auschecken und von der Neustadt zum Hauptbahnhof hinüber fahren musste; und dann lag die lange Zugfahrt vor mir, von Dresden über Hof nach München rund sieben Stunden. Wenn ich heute noch das Beste aus der mir verbleibenden Zeit herausholen wollte, musste ich etwas tun, zu dem mir eine andere Stadt keine Gelegenheit bot... Einmal mehr einer spontanen Eingebung folgend, sprang ich bei der vorletzten Haltestelle "Uferpromenade" aus dem Tourbus und sah mich nach den Abfahrtszeiten der Dampfer um. Jetzt war es 14:00 Uhr, und um 16:15 würde die "Kurort Rathen" zur letzten "kleinen Schlösserfahrt" ablegen, die anderthalb Stunden dauerte; ein Zeitrahmen, der mir nicht besser hätte passen können. Zwar würde meine Fahrt auf der Elbe kürzer sein als bei meinem ersten Besuch, aber diesmal unternahm ich sie allein zu meinem Privatvergnügen, weil ich es wollte und konnte! I ch zögerte keinen Augenblick länger und löste an einem der kleinen Schalterhäuschen, die jenen der weiß-blauen Flotte am Starnberger See frappierend ähneln, mein Ticket für die "kleine Schlösserfahrt".


Der Fluss


Es war noch früh am Nachmittag, als der City-Tour-Bus von seiner Rundfahrt in die Altstadt
zurückkehrte und sich den Anlegern der Sächsischen Dampfschifffahrt an der Uferpromenade
in einem gemächlichen Spaziergänger-Tempo näherte, bevor er die Endstation am Postplatz
ansteuern würde.

Morgen blieb mir nach dem Kofferpacken nur noch ein letztes genüßliches Frühstück am Buffet m
eines Hotels, bevor ich auschecken und von der Neustadt zum Hauptbahnhof hinüber fahren musste;
und dann lag die lange Zugfahrt vor mir, von Dresden über Hof nach München rund sieben Stunden.

Wenn ich heute noch das Beste aus der mir verbleibenden Zeit herausholen wollte, musste ich etwas tun,
zu dem mir eine andere Stadt keine Gelegenheit bot... Einmal mehr einer spontanen Eingebung folgend,
sprang ich bei der vorletzten Haltestelle "Uferpromenade" aus dem Tourbus und sah mich nach den
Abfahrtszeiten der Dampfer um.

Jetzt war es 14:00 Uhr, und um 16:15 würde die Kurort Rathen zur letzten "kleinen Schlösserfahrt" ablegen,
die anderthalb Stunden dauerte; ein Zeitrahmen, der mir nicht besser hätte passen können.

Zwar würde meine Fahrt auf der Elbe kürzer sein als bei meinem ersten Besuch, aber diesmal unternahm
ich sie allein zu meinem Privatvergnügen, weil ich es wollte und konnte!

Ich zögerte keinen Augenblick länger und löste an einem der kleinen Schalterhäuschen, die jenen der
weiß-blauen Flotte am Starnberger See frappierend ähneln, mein Ticket für die "kleine Schlösserfahrt".

Mir blieb noch mehr als genügend Zeit, um im Biergarten, der sich vor der Front des niedrigen weißgetünchten
Basteischlösschens erstreckt, zu Mittag zu essen. Zwar bezahlte ich mit dem Essen auch den Blick auf die
Elbwiesen zu meiner Linken und die Galerie der Alten Meister zu meiner Rechten; aber dafür bekam ich auch
eine riesige Rostbratwurst mit einer großzügigen Portion Sauerkraut und Kartoffelpüree, und danach die beste
Eierschecke, die man in Dresden bekommen kann, zusammen mit einer ordentlichen Tasse Kaffee für € 7,90.
Ein Preis, über den man angesichts der Umgebung, in der man sein sächsisches Kaffeegedeck genießt, nicht
meckern kann.

Leider betreten die meisten Besucherinnen und Besucher das Basteischlösschen nur, um die Toilette im ersten
Stock aufzusuchen, was schade ist, weil die Möbel und die Wände bis hinauf zur Decke reinstes Rokoko sind.
Das gesamte Interieur atmet eine Zartheit und Anmut der Farben und Formen, die in unserer Zeit völlig verloren
gegangen ist.

Dann begab ich mich zum Anleger und wartete gemeinsam mit den anderen Passagieren in der rasch wachsenden
Schlange darauf, mich auf dem Oberdeck des urigen Raddampfers einquartieren zu dürfen, der mit seinen bunten
würfelförmigen Decksaufbauten aussah, als hätte ihn jemand aus einem Lego- oder Playmobil-Baukasten
zusammengesetzt.

Bis uns die Besatzung der Kurort Rathen an Bord kommen ließ, hatte ich die ganze Zeit die Galerie der
Alten Meister vor Augen, die nie mächtiger und grandioser wirkt als von der Uferpromenade oder der
Reling eines Dampfers aus betrachtet.

Bei ihrem Anblick ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich bisher weder diese noch eine andere
der großen Galerien Dresdens besucht hatte, und versetzte mir einen kleinen Stich der Reue...

Doch mein Programm für die Osterfeiertage war diesmal ein anderes gewesen, und bisher war ich in
jeder Hinsicht auf meine Kosten gekommen!

Als wir dann alle über die kleine eiserne Plattform unseren Ausflugsdampfer betraten und uns auf die
Sitzbänke am Bug und Heck verteilten, hörte indes der versäumte Kunstgenuss nicht auf, weiter in
meinem Gehirn zu rumoren... Hm!

Der überwältigenden Fülle an Kunstschätzen, mit denen Elbflorenz aufwartet, würde ich nur gerecht
werden, wenn ich mich fünf Tage unter der Woche in der Altstadt einquartierte, mir für jeden Tag eine
Galerie vornahm und dort an die drei Stunden verweilte, um mich auf meine "Wunschobjekte" zu
konzentrieren. 

Nur dann würde mir der Kunstgenuss etwas bringen, anstatt von der geistigen und körperlichen
Überlastung heimgesucht zu werden, die mich binnen kürzester Zeit außer Gefecht setzen würde,
wenn ich im Eiltempo durch die großen Sammlungen zog und sie mich mit ihrer geballten Wucht
erschlugen...

Mal sehen! Ende September/Anfang Oktober geht meine Probezeit in meiner neuen Arbeitsstelle
zu Ende, und ich habe Anspruch auf den ersten ordentlichen Urlaub. Entweder um den Tag der
Deutschen Einheit herum oder an Allerheiligen sollte ich Nägel mit Köpfen machen und meinen
Urlaub ebenso wie meine Zeitfenster in den Galerien buchen.

Doch ich will ehrlich sein: Jetzt und hier, an diesem Ostersonntag, wollte ich nichts anderes,
als die klare saubere Luft auf dem Oberdeck meines Dampfers atmen, auf dem mächtigen Strom
der Elbe entlang treiben und das steile grüne Elbhochufer an mir vorüberziehen lassen.

Gerade die Elbschlösser auf dem Höhenrücken - die mittelalterlich anmutende Albrechtsburg,
die einem Landhaus in der Toskana gleichende Villa Stockhausen und das im britischen Tudorstil
errichtete Schloss Eckberg - wie auch die anderen kleineren Villen und Landhäuser von Loschwitz
wirken von der Wasserlinie aus eindrucksvoller und fügen sich harmonischer und stimmiger in die
Landschaft, als wenn man sich ihnen auf dem Serpentinenweg über die Buckel des Elbhochufers
nähert.

Wenn dazu noch ein klarblauer Himmel mit strahlendem Sonnenschein kommt und einem immer
wieder Grüppchen von Spaziergängern und Radfahrer zuwinken, die drüben im flacher und niedriger
gelegenen Blasewitz am Ufer unterwegs sind und zu uns herüber schauen, fehlt einem zum Glück
und zur Zufriedenheit absolut nichts!

Schade ist nur, dass diesmal der Dampfer schon bald nach der Loschwitzer Brücke wendet und
noch vor Schloss Pillnitz die Rückfahrt antritt. Doch das ändert nichts an dem Ensemble der Kuppeln
und Türme, das sich als klar umrissene und zugleich harmonische Linie vom dunstigen Gold des
Abendhimmels und der Elbe abhebt.

Jener Canaletto-Blick, der einen für kostbare Augenblicke glauben lässt, dass man jetzt und hier
in Wahrheit zum Bacino di San Marco in Venedig unterwegs ist...

Übrigens kam ich, als die Dampferfahrt zu Ende ging und die Kurort Rathen uns alle wieder an
Land entließ, doch noch zu einem kleinen Kunstgenuss, den ich weder geplant noch erwartet hatte.

Als ich die Uferpromenade entlang schlenderte, hatte ich noch keine Lust, in mein Hotel zurückzukehren
und nutzte den Fußgängertunnel, um unter der Brühlschen Terrasse hindurch in die Altstadt zu gelangen.
An einer der Wände, von denen die Unterführung gestützt wird, weist ein kleines Messingschild darauf hin,
wie hoch der Pegel der Elbe beim Jahrhunderthochwasser von 2002 stand. Damals war das Hochwasser
der Brühlschen Terrasse und ihren Bauten und Schätzen gefährlich nahe gekommen...

Von einem leisen kalten Schauder gepackt, schlüpfte ich durch den Tunnel, so rasch ich konnte, und kam
nahe der Aufstiegsrampe zur Augustusbrücke heraus.

Dort wurde ich auf ein Schild mit der Inschrift Antik-Café aufmerksam. Es liegt tiefer als der Gehsteig, so
dass man quasi auf die Einrichtung und auch auf die Wände der Gaststube herabsieht. Alle Stühle,
Sofas und Tische sind im Biedermeier-Stil gehalten; unzählige Tiffany-Lampen, die von der Decke hängen
oder auf kleinen Seitentischen stehen, erfüllen den Raum mit buntem Licht; an den Wänden hängen Ölgemälde
aus der Mitte des 19. Jahrhunderts... Nichts wie hinunter ins Gewölbe!

Wenige Augenblicke später bekam ich einen Platz auf einem grün gepolsterten Biedermeier-Sofa an einem
kleinen aber massiven Tisch aus Nussbaumholz und führte meine Augen über die Schätze spazieren, die
auf den Möbeln standen und an den Wänden oder von der Decke herab hingen.

Allein mit den wunderschön gestalteten Tiffany-Lampen mit ihren Buntglasscheiben und ihren floralen
Mustern und Formen könnte man ein eigenes kleines Museum eröffnen!

Es geschieht mir nicht oft, aber diesmal vergaß ich über dem Schauen und Staunen fast das Essen.
Was schade gewesen wäre, denn die Soljanka, die ich vorgesetzt bekam, war würzig und gehaltvoll;
und die Quarkkeulchen mit Sahne und Vanilleeis kamen frisch aus der Fritteuse.

Nach dem Essen und Bezahlen sah ich mich noch eine Weile in den Gängen und Zwischenräumen um.
Das kann und darf man in diesem Café durchaus tun, solange man keine Kunstgegenstände und Gemälde
berührt und die Hände so nahe am Körper lässt wie möglich, um nichts umzuwerfen oder zu zerbrechen.

Hier stand eine Registrierkasse aus Messing, dort drüben ein Samowar aus Kupfer, die Wände quollen
vor Gemälden und kleinen Skulpturen schier über...

Nur schwer gelang es mir, mich aus dem Bann zu lösen, den dieses Zauberreich über meine Sinne
und mein Gemüt gewoben hatte.

Schließlich begab ich mich auf den Weg zum Hotel, wo mir bald wieder bewusst wurde, dass meine
Zeit zu Ende ging.,, Doch mir scheint, als sei ich auch diesmal nicht zum letzten Mal hier gewesen!

Was für einen Gesamteindruck ich diesmal bei meinem Aufenthalt in Dresden gewonnen habe?
Für mich ist es seltsam, meine Empfindungen in klare Worte zu fassen.

Durch meine Aufenthalte in Paris, Prag und Wien sind mir Städte vertraut, in denen Kunst und
Kultur groß geschrieben wird; und stets habe ich mich hellwach und voller Begeisterung auf das
gestürzt, was mir die jeweilige Stadt bot. Was ist es, das mich vor den Schätzen Dresdens
zurückhält, ja fast zurückschrecken lässt, als sei es schlicht und einfach zuviel?

Und was auch seltsam ist: Nach meiner Abstammung, Geburt und Herkunft bin ich eindeutig eine
Deutsche. Doch wieso liegt mir Prag näher und wärmer am Herzen, ist mir Wien näher und vertrauter
als Dresden, obwohl ich weder Tschechin noch Österreicherin bin?

Diese Stadt als Ganzes wie auch die Menschen, die in ihr leben, umgibt eine gewisse Kühle,
Zurückhaltung, Reserviertheit. Die Menschen, die einen umgeben, reagieren und antworten,
wenn man sich ihnen zuwendet, doch sie scheinen einem von sich aus nicht nahe zu kommen.
Und zuweilen, wenn man in einer Gaststätte oder einem Laden etwas möchte, spürt man hier
und da ein Zögern oder gar ein Widerstreben...

Was auch wiederum seltsam ist, denn weder das Gesamtbild der Stadt noch die einzelnen
Bauten verströmen Kälte, Zurückhaltung oder Reserviertheit; das Leichte, Anmutige, Verspielte
der Rokoko-Zeit wird überall sichtbar und spürbar.

Sind es die Wunden und Narben der Vergangenheit, an denen die Stadt und ihre Bewohner
sich noch immer abarbeiten? Was wäre notwendig, um in den Menschen, die hier leben,
Offenheit und Vertrauen neu zu erwecken?

Gerade hier ist in den mehr als dreißig Jahren seit der Wiedervereinigung viel geschehen.
Doch ging das, was geschah, für die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt auch in die richtige
Richtung?

Fragen, die sich rasch einstellen, wenn man mit wachen Sinnen und empfänglichem Gemüt auf den
Straßen und Plätzen Dresdens unterwegs ist. Doch für mich als eine Fremde und Außenstehende
wäre es geradezu vermessen, auch nur ansatzweise zu behaupten, dass ich darauf eine Antwort hätte.